Saturday, 13. June 2020

Autor: Susanne Rowley

Wo Masse die Klasse ersetzte, trifft uns das Virus besonders hart.

Vom freien "Auslauf" im künftig Maß geregelten, hygienischen Betreuungsstall. 

Liebe Wigwam Freunde,

es ist nicht neu, womit mein Blog Beitrag zur Corona Krise beginnt. Und es ist nicht alles schön, was meine Tasten heute hergeben. 

Durch alle Köpfe geistert er, der Virus, der nun unter uns weilt und unsere Realität diktiert.

Er scheint unberechenbar. Das eine Leben nimmt er, das andere verschont er. Er setzt Angst an die Stelle von Zuversicht. Er schickt Gesellschaften auf Distanz, wo Nähe den Zusammenhalt garantiert. Er lässt emotionale Tankstellen versiegen, die uns den Arbeitsalltag meistern ließen. Er lässt Bereiche verschwinden, andere aufblühen und kennt dabei keine Gerechtigkeit. Er stoppt den Fluss unserer Systeme an den empfindlichsten Stellen. Er legt Schwachstellen bloß, die wir tapfer verdrängt haben. Er zeigt schonungslos auf Säulen der Gesellschaft, die unser aller Grundpfeiler sind. Er lässt offene und auch verstohlene Blicke in die Zukunft zu, die uns Umwälzendes denken lassen. Er zeigt auf, an Gewohntem zu klammern, kann haltlos machen. Er eröffnet die Vision, Altbewährtes durch Neues ersetzen zu können. 

Er wirft die Frage in den Raum. War unsere Normalität je normal?

Das Schlaglicht fällt auf das selbst gewählte Konstrukt, das wir Leben nennen. Und wir erkennen, wie fragil ein Konstrukt ist, kommt eine Unbekannte hinzu.

Er macht ohnmächtig und mächtig zugleich. Dabei zeigt er einen Aus-Weg auf.

Krise kann Chance sein.

Wer in reiferem Alter hat diese Gleichung noch nicht aufgemacht. Aber erst kommt bekanntlich das Aus. Dann der Weg.

Es liegt in der Natur der Natur, dass Neues entsteht, wenn Altes weicht. Besonders hartnäckige Zeitgenossen, zu denen ich mich als Frau, Mutter und Gründerin auch zähle, brauchen es manchmal besonders dicke, um die Kehrtwende hinzukriegen. Es muss von Zeit zu Zeit offensichtlich ganz hinunter in den Keller gehen, um den Aufstieg überhaupt zu sehen und dann auch zu erklimmen. 

Aus diesem Grunde lasse ich mich ein, auf das, was ist und kommen wird. 

Die Gesellschaft und viele in ihr haben verstanden, wir stehen an einem Scheideweg. Zumindest aber sind wir aufgefordert, Systeme zu überdenken, auf ihren Lebens Wert hin zu überprüfen.

In einer hoch komplexen Gesellschaft den richtigen Weg zu wählen, ist eine unfassbar große Herausforderung. Der Anspruch an uns selbst, und die Frage, wie wir eigentlich leben wollen, können Wegweiser sein. Dazu ist es notwendig, wieder und wieder und wieder genau hinzuschauen!  

Gesehen haben wir bis heute auf untrügliche Weise:  

Überall dort, wo Masse die Klasse ersetzte, trifft es uns besonders hart.

Masse hat in unserer Gesellschaft viele Gesichter.

Sie findet sich dort, wo dem Konsumenten die alleinige Verantwortung zugeschrieben wird, die Nachfrage zu bestimmen. Momentan hat sich die Auffassung des Konsumenten jedoch merklich verschoben, und er bewertet völlig anders, welche Dinge einen Mehrwert für sein aktuelles Leben bedeuten. Unser System ist jedoch nicht auf Verzicht ausgelegt.

Sie findet sich da, wo Dinge schnellstens verfügbar sein sollen, egal woher sie stammen, weil das Warten und Verzichten nicht Teile unseres Wohlstandsdenkens sind. 

Die Masse ist ebenfalls dort zu Hause, wo wir gerne nehmen, aber wenig geben; nicht bereit sind, den Gegenwert für eine lebenswerte Leistung aufzubringen.

Und sie quält uns dort besonders nachhaltig, wo wir uns entschieden haben, den Menschen ins System zu pressen, statt Systeme darauf auszurichten, dass sie dem Menschen dienlich bleiben. Gleiches gilt für die Un-Art, Menschen, die keinen wirtschaftlichen Nutzen zu haben scheinen, nicht mehr in unserer gesellschaftlichen Großfamilie zu halten, sondern Institutionen für Sie zu schaffen. 

Mehr als je zuvor sehe ich den Zustand unserer Familien, der kleinsten gemeinsamen Einheit der Gesellschaft, als Spiegel des großen Ganzen. 

Mein Blick als Wigwam Gründerin fällt seit März diesen Jahres

und wer hätte das gedacht – insbesondere auch auf die Kinderbetreuungsformen, die unser System hervorgebracht hat.

Und ich schieße verbal ganz flott aus der Wigwam Hüfte:

Alles, was jetzt gebraucht würde, und wonach gerufen wird,  ist schon lange da! Aber der Reihe nach.

In zahlreichen Foren habe ich stumm mitgelesen. Meine auszugsweisen Wahrnehmungen möchte ich Ihnen heute mitteilen. 

Die Rufe, der zu Recht verzweifelten, weil im Stich gelassenen Eltern mit kleinen Kindern, gingen vornehmlich in eine Richtung:

Wie fürchterlich, auf die Oma aus Timbuktu nicht zurückgreifen zu können, weil sie zur Risikogruppe gehört. Die Großfamilie, die die Globalisierung ohnehin gefressen hat, steht nicht mehr zur Verfügung. Aber auch die Reise freudigen unter den Großeltern dürfen die Verbotszone nicht betreten. 

Ich las bange Fragen wie:

Ist es denn nicht möglich, die Kontaktbeschränkungen dergestalt zu lockern, dass Familien, die könnten, Familien helfen, die müssten. Ach nein, fiel mir da ein, die haben ja keine Pflegeerlaubnis. Scherz beiseite. 

Könnte man nicht im Freien unterrichten, und gibt es nicht auch Waldkindergärten, da hätten die Aerosole doch die kleinsten Chancen Unheil anzurichten. Leider – fail – da die Natur kommunalen Auflagen in der Regel einfach nicht genügen will.   

Institutionen, deren tief verwurzelter Fachkraftmangel stetig ignoriert wurde, gepaart mit der politisch gewollten und systematisch angelegten Bildungslüge für unsere Allerkleinsten, die Eltern lange genug aufgetischt wurde, damit die Hände für die freie Wirtschaft auch frei sind, ringen nun abermals 

– gezwungenermaßen - 

um die Quadratmeterzahl, die einem Kind buchstäblich „das Atmen“, hier in ganz neuen gesundheitlichen Dimensionen - wieder ermöglichen soll.

Diese lagen bis dato noch über dem Platz, der einem Nutztier in der Mast zur Verfügung steht. Tierliebhaber mögen mir diesen Vergleich nachsehen und statt dessen die Menschen- und Tier verachtende Grundlage hinter solchen Verordnungen betrachten. Im Schnitt stehen einem Kita-Kind zwischen 2,5 und 3 Quadratmeter Innenraum und 10 bis 12 Quadratmeter Außenfläche zur Verfügung. Die Mensch gemachten Auflagen, um ein System effizient zu gestalten, müssen neuerdings Luft bekommen, weil SARS COV 2 nun mal keine Kompromisse macht. 

Um Vereinzelung in der Masse zu erreichen, muss ein neues krankes System das alte kranke System erweitern. Leider nicht ersetzen. Das wäre eher meine logisch anmutende Lehre aus der aktuellen Krise. 

Nein, es geht noch schlimmer. Es wird im Schichtsystem "gebildet und gefördert". Für freien "Auslauf" im Maß geregelten Betreuungsstall sorgen strengste Auflagen. 

Ganz ehrlich? Schämt Ihr Euch nicht wenigstens jetzt? Lasst es einfach.

Denn schon die Maßnahmen, die dazu ergriffen werden müssen, lassen das Ziel zu einer Farce werden.

Ohnehin gibt es auch unter den sogenannten Experten nie eine einheitliche Definition für Bildung. Ist es Wissen, Kultiviertheit in einer Gesellschaft, der Mehrwert für die freie Wirtschaft, oder doch die Individuelle Persönlichkeit und das angelegte Potential, das durch liebevolle Begleitung erst zur Entfaltung gebracht werden soll. Letzteres wird propagiert. Gelebt wird es nicht. 

Der Urvater der Auffassung von Bildung, Wilhelm von Humboldt, 

wusste noch, dass es auf die Anregung der im Menschen ur-angelegten Kräfte im wahrsten Sinne ankommt. Davon ist in unserem bestehenden Bildungssystem an keiner Stelle mehr "Raum". 

Machen wir uns ehrlich. 

Ein frühkindlicher Bildungsweg war schon vor Corona in Deutschland kein Entwicklungsweg mehr, sondern Zielvorgaben zeichneten den Weg vor. 

Von einer natürlichen Kindheit für unsere Allerkleinsten spreche ich hierbei schon lange nicht mehr. 

Jetzt blüht unseren Kleinstkindern ein horrendes zusätzliches Verbiegen, um Hygiene Auflagen zu genügen und das ohnehin schon kranke, überfüllte System Institution in seiner aktuellen und zukünftigen Daseins Form noch irgendwie zu rechtfertigen. Auf die Erzählungen der zukünftigen "Bildung und Förderung" bin ich total gespannt.

Definiere zuerst Klasse in Zeiten von Corona. 

Diese würde sich neben einer familiären, spielerischen Erweiterung des frühkindlichen Horizontes ganz nebenbei auszeichnen durch:

Feste, nicht wechselnde Bezugspersonen.

Kleine Einheiten mit immer gleichen Kindern, die eine Neudurchmischung nicht vorsehen.

Ebenso kleine Elterngruppen, denen ein solidarischer Gesundheitserhalt der kleinen Gruppe so wichtig ist, dass sie auch in ihrem Privatleben Hygiene Regeln einhalten.

Familien und Tagesfamilien, die einander begegnen und sich in herausfordernden Zeiten, in natürlicher Weise das geben, was aktuell gebraucht wird. Familiärer Halt, vereinbarende Stütze und mentale Nähe.

Individualität, die stets den Vorteil hat, flexibel auf Bedürfnisse von Groß und Klein angemessen zu reagieren.

Kurz: Ein weitestgehend geschützter Betreuungsraum für alle Beteiligten in Zeiten von Corona. 

Was meinen Sie, von wem ich spreche?

Die Kindertagespflege.

Wenn das Gute liegt so nah. Und einfach keine Lobby hat. 

Und wenn diese dann noch mit pädagogischer Kern Kompetenz, gepaart mit einer gesunden Portion Lebensreife und der Fähigkeit zur Selbstreflexion ausgestattet wäre, was würden Sie einem Kleinstkind und der vereinsamten Kleinfamilie von heute in Corona Zeiten sonst noch wünschen können?

Eine Politikerin aus Mainz muss diesen Umstand bemerkt haben. Sie ließ folgenden Hinweis in einem Interview mit einer Mainzer Zeitung fallen: 

Man könne doch die Kindertagespflege übergangsweise stärker fördern.  

Da bleibt auch mir die Luft weg. 

Problem erkannt. Lösung gebannt. 

Sie wirft der Stadt Mainz mangelnde Sensibilität vor. „Immer wieder werde die Vereinbarkeit propagiert, aber das entsprechende Angebot nicht geschaffen, der Rechtsanspruch nicht erfüllt. Auch wenn die Personal Fluktuation im Kita Bereich vergleichsweise "normal" wäre, so kritisiere sie doch die Auswirkungen für Eltern“.

Hm. Sensibel wäre aus meiner Sicht, die längst bekannten Ursachen von "Fluktuation“ zu beseitigen. Und noch sensibler wäre es, einen anderen Berufsstand nicht neuerlich aufzufordern, vorübergehend den Lückenbüßer zu geben, um anschließend seiner eigenen Vernichtung ins Auge zu blicken. 

Wenn uns dieser Virus also etwas Positives für unsere Betreuungslandschaft lehren kann, dann wird es keinem politisch Verantwortlichen erspart bleiben, Ursachen von manifesten Fehlentwicklungen auf den Grund zu gehen, und die große Institution als solches im frühkindlichen Bereich komplett auf den Prüfstand zu stellen. 

Wenn nicht jetzt wann dann.

Und bevor ich ihren letzten Wigwam Lese Nerv und meinen Schreib Nerv noch töte, sei mir diese Anmerkung noch erlaubt:

Der Virus hat auch jene wieder aus Deutschen Löchern gelockt, denen schon lange auf der Zunge lag, Folgendes für berufstätige Eltern mal wieder zum Besten zu geben:

Frau und Mann solle die Pandemie doch dafür nutzen, ihre Kinder besser kennen zu lernen, statt sie in die allzeit bemühten „fremden Hände“ zu geben. Oder besser gleich gar keine Kinder zu bekommen, wenn man nicht in der Lage oder willens sei, sie selbst zu betreuen.

Ich weiß nicht genau, welchen Gong dieser Teil der Gesellschaft nicht gehört haben will.  

Aber ohne Vereinbarkeit von Familie und Beruf, steht unser selbst gewähltes Wirtschaftssystem still. 

Daher schlage ich vor, dass übrig gebliebene Kritiker aus den 50igern, die das Bild der Rabenmutter noch immer über ihrem Bette hängen haben, sich zunächst dafür stark machen, das von einem Gehalt auch ein Leben ist.

Kriegen sie dafür den rückständigen Po nicht hoch von der vergilbten Chaiselongue, rate ich zu vornehmem Schweigen. 

Alternativ zur Faust in der frauenfeindlichen Tasche.

Es grüßt

Susanne Rowley 

www.wigwam.de   

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