Tuesday, 6. January 2015

Autor: Susanne Rowley

Von kurzfristigen politischen Zielen & einem kurzen frühen Kinderleben

Von kurzfristigen politischen Bildungs- und Förderzielen, die in einem kurzen frühen Kinderleben langfristig Wirkung entfalten sollen?


Schon beim bloßen Gedanken an diese umwerfende Logik könnte man die Fassung verlieren.

ktpdeutschland.wordpress.com/2015/01/03/luckenbuser-alternative-randzeiten-luckenfuller-notlosung-notfalls/

Hallo liebe Wigwam-Freunde,

da macht sich eine, die es wissen muss, mal so richtig Luft.

Seit Tagen schaue ich mir mit Freude den Blog von Antje Radloff an, den sie mit sehr viel Sorgfalt aufgebaut hat. In dem o.g. Artikel schreibt sie sich ihren Unmut über die „Lückenbüßer“-Qualitäten der Kindertagespflege, derer sich häufig die Medienlandschaft bedient, von der Seele. Und Recht hat sie! Sie streift derzeit so ziemlich alle Reizthemen, unter denen Kindertagespflege seit Jahrzehnten zu leiden hat: Die leistungsgerechte Vergütung, das mehr oder weniger angewandte Wunsch- und Wahlrecht von Eltern, die kommunalen Fördervoraussetzungen, das Zuzahlungsverbot, die Ausbildung der Kindertagespflege u.v.m. Das sind Themen, die auch mich seit Jahren umtreiben, und zu denen ich mich ausführlich hier und auf der Wigwam-Homepage kritisch geäußert habe.Aber es bleibt nicht aus, dass wir uns hier und da wiederholen. 

Was mir jedoch immer wieder auffällt,

ist, dass ich bei der kritischen Auflistung der Art, wie mit dem Berufsstand der Kindertagespflege im allgemeinen umgegangen wird, völlig d'accord bin. Bei den Ursachen allerdings, die ich ausmache, ziemlich alleine auf weiter Flur stehe.

Wie ich das meine?

Ich vermisse Mut.

Ich vermisse Mut, den Fehler im System zu suchen. Ich vermisse den Mut, sogenannten Experten und ihrem Ansinnen auf’s Maul zu schauen. Ich vermisse den Mut, den vorgeschobenen politischen Willen nach Lösungen für's Kind zu suchen, anzuzweifeln. Ich vermisse den Mut, dem gewachsenen Gesetzes-Gestrüpp mal näher zu treten. Ich vermisse den Mut, an Ursachen heran zu treten bzw. sich überhaupt einmal die Mühe zu machen, nach ihnen Ausschau zu halten. Ich vermisse Mut, die Richtung anzuzweifeln, in die der wahnsinns Bildungs- und Föderungskarren gezogen wird. Ich vermisse den Mut, die heimlichen Nutznießer, die stillen Drahtzieher im Hintergrund mal aus der Deckung zu holen. Und ich vermisse den Mut, auch den Kindertagespflegepersonen selbst mal zu sagen: Steht auf – tut endlich was für die Anteile, die ihr an Eurer Situation habt. Und schlussendlich vermisse ich mutige Eltern, die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie bekommen, was sie sich für "ihr Liebstes" wünschen, statt sich wie eine blökende eingeschüchterte Schafherde vor kommunale und wirtschaftliche Karren spannen zu lassen.

Zur Untermauerung dessen, wie ich das meine, möchte ich auf eine von vielen Expertisen verweisen, die ich vor Monaten exemplarisch heraus gegriffen und dergestalt kommentiert habe: www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2014/DJI_Rechtsexpertise_Tagespflege.pdf Da diese Expertise sehr lang ist, hier für meine Leser nur kurz der Ausgangspunkt, warum ich das tat. Zugrunde lag dieser unendlich langen Expertise ein einzelner Gedanke von „Experten“, Tagesmüttern und –vätern eine weitere Perspektive an die Hand zu geben und ihren Berufsstand attraktiver zu gestalten.

Falsch:

In Wahrheit ging es darum, einen Berufstand biegsamer für jene zu machen, die ihn benutzen statt fördern möchten. Nun ja – an diesem so edel daherkommenden Grundgedanken hat sich das Deutsche Jugendinstitut dann mächtig abgearbeitet; basierend auf einer Annahme, die als solche schon infrage zu stellen gewesen wäre. Und damit nimmt das Betreuungschaos erfahrungsgemäß seinen Anfang. Ausgangspunkt ist immer eine solche Annahme, von der ein sogenannter „Experte“ ausgeht, um ein vorgefertigtes Ziel zu erreichen. Die ist dann unumstößliche Wahrheit, und hierauf bauen die verrücktesten Abhandlungen auf, ungeachtet der Tatsache, wer aufgrund einer so bahnbrechenden Idee einen Genickbruch erleidet.

Die Annahme

in dieser Expertise war kurz gesagt die, dass die Verwandlung einer freiberuflich tätigen Kindertagespflege in Festanstellungsmodelle dazu beitragen könnte, „soziale Unsicherheiten“ der Tagespflegepersonen zu beseitigen sowie deren kontinuierliche Erwerbsintegration zu gewährleisten. Darüber hinaus könnten Festanstellungsmöglichkeiten grundsätzlich verstärkt die Chance eines „Rückgriffs auf institutionalisierte Netzwerkstrukturen“ bieten. Für die Eltern wiederum könnten Festanstellungsstrukturen eine bessere Betreuungskontinuität und Verlässlichkeit liefern.

Hört sich nicht schlecht an finden Sie?

Dann übersetze ich das mal: Wie schaffe ich es, dass der störrische Esel gerade immer so viel zu fressen hat, dass er die Lasten, die wir ihm nicht aufbürden sollten, klaglos tragen kann. Und wie kriegen wir das hin, dass die, die ihn reiten sollen, nicht merken, dass er nur ein Esel ist.

Wenn Sie das nicht so sehen,

dann würde es Ihnen persönlich also auch nichts ausmachen, wenn ich sie zur Verbesserung ihrer beruflichen Grundlagen auffordern würde, zu kündigen und einfach einen völlig anderen Job auszuüben. Ja, sie haben richtig gelesen. Nichts anderes forderte im Grunde diese Expertise. Wir wissen nicht umzugehen mit der Kindertagespflege so wie sie ist, haben nicht den Mut, sie in einen Rahmen zu betten, der sie aufleben ließe, und wir möchten auch nicht die Nutznießer derselben behelligen. Also nehmen wir alle Wünsche, die wir an jenen Berufsstand haben, biegen und feilen an ihm solange, bis der dem Bilde entspricht. Vergessen haben wir dabei nur leider, dass wir dem Berufsstand selbst den Boden unter den Füßen entzogen haben. Ein Berufsstand seines Wesens zu entheben, bedeutet, ihn seiner Grundqualitäten zu berauben. Dass dies weitaus mehr und neue Probleme für Tagesmütter und –väter aufwirft, als der Experte versuchte zu lösen, liegt auf der Hand. Stört die Verantwortlichen aber nicht weiter, denn dann gibt’s in der neuen Legislaturperiode neue Experten mit neuen Expertisen, die das dann wieder zu beseitigen suchen.

Das ist ungefähr so,

als ob sie aus einer motivierten freiberuflichen Hebamme einen müden Nachtwächter an der Pforte machen wollten und sich dann wundern, wer da noch übrig bleibt.

Ausführlich kommentiert habe ich die Expertise für Interessierte hier: www.kinderbetreuungsboerse.de/wigwam-blog/wigwam/nachricht/-5aabee05c6/

Aber zurück zum „Lückenbüßer“-Artikel von Antje Radloff. Ja, die bösen Medien benennen sie so. Aber es hilft uns nicht weiter, einem ahnungslosen Journalisten den Stift aus der Hand zu nehmen, einem kindertagespflege-unwilligen Kommunalpolitiker hinterher zu kriechen, ihm hier und da von Kindertagespflege vorzuschwärmen, die er gar nicht haben will. Noch möchte ich das Problem der "Randzeiten-Lückenbüßer" in 24-Stunden-Kitas gelöst sehen, damit die auch mal dran sind. Überaus genervt bin ich auch von der verzweifelten Suche nach dem einen Experten, der mir endlich wissenschaftlich fundiert bestätigt, dass Kinder das brauchen, was Antje so vehement richtig beschreibt: >> Wir sind eine Betreuungsform, die aufgrund ihrer Größe individuell auf jedes Kind eingehen kann, die Kinder individuell fördern kann, die eine beständige Bindung zu den Kindern aufbaut. Wir sind klein, behütet, individuell, qualifiziert und familiär. <<

Antje: Das interessiert keinen!

Das Ziel von Politik und Wirtschaft ist ein anderes! Du und ich sind losgezogen, etwas für's Kind und seine Betreuung zu tun. Die, denen wir uns anbiedern sollen, sind aber schon weit vorher abgebogen.

Und so richtig satt habe ich, dass wir es schon nötig haben, von offizieller und wissenschaftlicher Seite dokumentiert zu bekommen, dass auf Bäume klettern und selbst Erforschen besser ist für unsere Kinder, als in frühe Fördermaßnahmen gepresst zu werden. Ohne Freibrief "von oben" geht gar nichts mehr! Es muss mir keiner erzählen, dass Kleinstkinder eine enge Bindungsperson brauchen, die ihr Tun und Lassen stetig spiegelt. Und ich muss auch niemanden mehr haben, der mir die Schrumpfung des Hypothalamus bildlich darstellt, wenn ich all das als kleines Kind missen musste. Wir brauchen auch keine Resilienzkurse für Erwachsene, wenn wir uns wieder auf das Besinnen, was wir über früheste Kindheit wissen und fühlen.

Zuallererst brauchen wir den Mut, die Instrumentalisierung, sowohl der frühen Kindheit, als auch deren beruflichen Betreuungsbegleiter aufzuzeigen. Politik möchte kurzfristig wiedergewählt werden. Wirtschaft möchte uns schnell und gewinnbringend ihre Produkte unterjubeln. Beide sind aufs Engste miteinander verwoben, und nur das treibt sie an. Nichts weiter.

Frühe Kindheit

hingegen möchte langfristig davon unangetastet erlebt werden und hat mit all‘ dem rein gar nichts zu tun.

Wir sitzen nicht im selben Boot,

also warum sollte ich ihnen fortgesetzt entgegenrudern? Wir brauchen eine Kurskorrektur und noch viel mehr.

Es geht also um alles mögliche Kurz- und Mittelfristige – aber nicht um das Kind, nicht um seine Betreuung und sein überaus KURZES FRÜHES Leben, das so angelegt sein müsste, dass es ein ganzes LANGES Leben "trägt". DAS wäre unser aller langfristiger Gewinn. Ginge es um das Kind, wäre alles, was wir beschließen und entscheiden an seinem Wohlergehen ausgerichtet. Nicht mehr und nicht weniger.

Uns ist der Mut zu naturgegebenen Prozessen zu stehen und junges Leben nach ihnen vertrauensvoll auszurichten, abhanden gekommen, und wir alle wissen das! Und jeder, der es wagt, in diese Richtung vorzustoßen, den völlig instrumentalisierten Bildungs- und Förderwahn der frühsten Kindheit beim Namen zu nennen, macht sich verdächtig, der Dummheit anheim zu fallen und eine diffuse Schuld auf sich zu laden. Sowohl die Einrichtungen und Kindertagespflegepersonen als auch die Eltern sind zu Handlangern eines kranken Systems geworden. Sie fühlen sich allesamt nicht wohl, tragen aber keine Mitverantwortung und bewegen sich keine mm, sobald da oben einer den Zeigefinger hebt, und persönliche Unannehmlichkeiten nicht auszuschließen sind.

Wahrlich eine Mammut-Aufgabe

wäre es, das Ruder noch einmal in Richtung Kinderbetreuung, die den Namen verdient, herum zu reißen. Vielleicht bin ich auch einfach schon zu lange dabei, um daran noch zu glauben. Aber ich verschwende meine Kraft nicht mehr an Verantwortliche, die nur vorgeben, ein kindgerechtes Ziel zu verfolgen und mich und andere in ihrer Legislaturperiode mal kurzfristig in ihren Dienst stellen wollen.

Ich möchte nicht verhehlen, dass es stellenweise gelingt, Kleinstkindern eine geborgene Betreuung zu bieten und dabei jenen, die das möglich machen, ein glückliches berufliches Umfeld zu erhalten. Das ist überall da der Fall, wo Verantwortliche erkannt haben, dass die Zitrone auszupressen weniger Sinn macht, als sie zu düngen. Und überall da, wo Experten wissen, wovon sie reden und der Nachhaltigkeit den Vorrang geben. 

Ich freue mich, liebe Antje Radloff, in Dir eine Weggefährtin gefunden zu haben, die explizit und unermüdlich aufs Kind und auf die betreuenden Berufsstände schaut, auch wenn unser Blick darauf zuweilen nicht immer der gleiche ist. Es ist anstrengend, bestehende Strukturen und die Ambitionen ihrer Erschaffer infrage zu stellen, anstrengender, als sich ihnen leidlich anzupassen und sich mit Teilerrungenschaften mit maximaler Haltbarkeit von 4 Jahren über Wasser zu halten. Ich ich bin nach 22 Jahren Kindertagespflege davon überzeugt, ohne ein umfangreiches gesamtgesellschaftliches Umdenken in der Bildungslandschaft geht es nicht!

Eure Susanne Rowley

Wigwam 1994
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