Monday, 1. August 2005

Autor: Susanne Rowley

Neulich bei den "Experten"

Wie Spezialisten unser Leben bestimmen


Hallo liebe Wigwam-Freunde, 

Neulich bei den Experten ... Ein Beitrag von Anette Vanderwege, Leiterin von Wigwam 2 in Hochheim-Massenheim/Hessen

Selten melde ich mich an dieser Stelle zu Wort. Aber dieses Mal reicht es mir nicht, mich gemeinsam mit Frau Rowley über die schlechte Betreuungssituation hier in deutschen Landen zu ereifern, sondern ich möchte, aufgrund der aktuellen Diskussion zu diesem Thema, Ihnen meine Gedanken zum Thema Familie und Beruf mitteilen. Dafür möchte ich Ihnen erzählen, was mich derzeit bewegt und wie ich es an der Realität abprüfen muß, weil ich vor Kurzem erleben durfte, wie Experten und zuständige Stellen in Wahrheit zu ihren Beschlüssen gelangen. Und das geht so.... 

An einem ganz normalen Arbeitsmorgen,

flatterte mir eine Einladung zu einer Diskussion unter Experten in einem Ministerium zum Thema "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" ins Haus. Gemeinsam mit Frau Rowley sagten wir zu, der Runde vielleicht wertvolle Beiträge zu liefern. Ich persönlich war ganz aufgeregt. Endlich, so dachte ich, könnte ich an der "richtigen Stelle" etwas zu diesem Thema sagen, beitragen oder gar bewegen. An dieser Stelle möchte ich erwähnen. dass ich mich sowieso als die Expertin schlechthin fühle, denn als berufstätige Mutter erlebe und lebe ich persönlich tagein und tagaus den Spagat, zwischen Familie und Beruf. Als Wigwam-Tante wird mir dann zusätzlich das ganze Ausmaß der katastrophalen Betreuungssituation in Deutschland täglich bewußt. Wie gesagt,jemand besseren als mich und Frau Rowley konnte man nicht finden grins*). Ich bereite mich vor - war vollgestopft mit Ideen, Anregungen, ich hatte viel zu sagen und wartete gespannt auf den Tag der Tage. An dem besagten Termin, fand ich mich in einem großen Raum mit vielen anderen Experten wieder. Volkswirte, Betriebswirte, Verantwortliche von gemeinnützigen Vereinen, Sachbearbeiterinnen eines Jugendamtes, ein Arzt einer psychiatrischen Einrichtung (*hä..?), Mitarbeiter des Ministerium und andere "wichtigen" Menschen waren anwesend. Es beschlich mich bereits der Gedanke, dass verschiedene "Experten" mit dem Thema an der Front wenig am Hut hätten, und zudem die Gruppierung an sich seltsam "gewürfelt" war. Aber nun gut - noch war ich begeistert von der Aufgabenstellung an sich....... Begrüßt wurden wir von einer sehr netten Dame, Professorin einer Fachhochschule, die den Auftrag hatte, die Diskussion zu leiten und mit uns gemeinsam zu erarbeiten "wie alles gut werden könnte". Ich war gespannt und platzte geradezu vor Mitteilungsdrang. Die Moderatorin begab sich zu Ihrem Flip-Chart - eine große Papier-Tafel - und erklärte uns die Agenda für den Tag. Nur 3 Punkte standen darauf und wir hatten den ganzen Tag Zeit ! Wunderbar, dachte ich, da kann man richtig effektiv was schaffen. 

Unsere Leiterin begann mit dem ersten Thema:

"Blick in die Vergangenheit" Es wurde erörtert und zusammengetragen, wie es damals war, als Muttern noch hinter dem Herd stand. Langsam wurden wir von unserer Moderatorin ins nächste Thema geführt: "Gegenwartsbetrachtung". Es wurden fix vorbereite Fragen gestellt, deren Beantwortung in einer Art "Brainstorming" auf Zuruf bestand. Ich empfand dieses Vorgehen als etwas seltsam, denn das ganze wurde nicht weitergehend vertieft, sondern bestand in dem reinen Einwurf von Schlagworten reihum, die dann auf dieser Tafel landeten. Ich hörte gespannt zu, und erwartete noch immer, dass es nicht beim reinen Werfen von Schlagworten bleiben würde, und wir irgendwann in die intensive Diskussion einsteigen würden. Irgendwie wurde ich aber insgesamt immer unruhiger, weil die Zeit lief uns davon, und ich konnte meine Ideen und Anregungen immer noch nicht "an die Frau" bringen. Es war absolut keine Gelegenheit zum freien Vortrag, zum Diskutieren, da wir immer wieder zu neuen vorgefertigten Schubladen und insbesondere auch zu den Antworten "hinmoderiert" wurden. Teilweise wurden Fragen gestellt, die so lang waren, dass ich am liebsten darum gebeten hätte, diese noch einmal zu wiederholen, weil ich den Satzanfang vergessen hatte. Diese wurden dann mit noch längeren Sätzen beantwortet. Mein Blick in die recht ratlosen Gesichter der anderen "Experten", die teilweise aus so unterschiedlichen Lagern stammten, dass sie beileibe den Zugang zum sprechenden Nachbarn nicht finden konnten, zeigte mir aber deutlich, dass es mehreren Damen und Herren ähnlich erging wie mir. Noch sah ich nicht ein, dass meine anfängliche Euphorie in Wahrheit längst schwand - immer noch wartete ich gespannt auf den letzten und für mich wichtigsten Punkt, nämlich: "Blick in die Zukunft." 

Hier und jetzt, so dachte ich, könnte ich endlich sagen, was ich zu sagen hatte,

wo ich Fehlerquellen in der Politik über Jahre ausgemacht hatte - und meine Vorstellung von Lösungen darlegen. Da fiel mir ein "Experte", der aus meiner Sicht völlig fehl am Platze war, ins Wort und verlangte, die Diskussion an dieser Stelle bitte umzugestalten, Arbeitsgruppen zu bilden, die dann effektiver vorgehen könnten - Einzelmeldungen seien zu langatmig, er erwarte hier das Zusammentragen von zukunftsweisenden knapp gehaltenen Themen und keine detaillierten Ausführungen - egal welcher Art ?! Er nutzte zudem die Gelegenheit anzumerken, dass er schmerzlich andere "richtige Experten" vermisse, Vertreter von Firmen, der IHK ect.; entschuldigte sich natürlich höflich bei uns vorrangig weiblichen Runde, dass er uns die Kompetenz an sich ja nicht absprechen wollte. PAFF - Ich war also kein Experte - ich, die jeden Tag an der Front, mit den Frauen sprach, die verzweifelt einen Betreuungsplatz suchten. Ich - die ich täglich versuche, meine Arbeit zu machen und mit den Bedürfnissen und Anforderungen, die das Leben mit 2 Söhnen an mich stellt, unter einen Hut zu bekommen. Es kam mir vor, als ob der wahre Experte in der Runde, die sinnlos durcheinander gackernden Hühner hier mal zur Ordnung rufen wollte. Nun gut! Unsere Professorin wußte nicht so recht, wie Sie auf die Forderung der neuen Kleingruppen-Hausaufgaben reagieren sollte. Sie läutete also eine rettende "Pipi-Pause" ein - wir durften zudem für unser leibliches Wohl sorgen, damit wir gestärkt in die letzte Runde gehen konnten. 

Dumm war nur,

dass von dem ganzen Tag nur noch 1 Stunde übrig war. Gut dachte ich, dann werde ich eben etwas schneller reden, sollte ich jemals zu Wort kommen! Leider kam ich dazu gar nicht. Denn auch hier war die Moderation perfekt vorgefertigt - die Schlagworte regneten auf mich nieder und landeten auf dem Super- Clip-Chart der Professorin. FERTIG ! So - da saßen wir nun vor einer übervollen Tafel von Überschriften, die von unserer Leiterin zum Teil sinnvoll "zusammengefaßt" wurden, da ja auch der Platz auf einer Papiertafel sein Ende hat :-). Mit großen Augen stierten wir nun auf ein Sammelsurium von Überbegriffen, die nun unsere Lösungsvorschläge darstellen sollten; Expertenbegriff dafür: "Handlungsvorgaben für die Regierung" ! Bsp.: "bessere Ausbildung für Mütter", "mehr Kindergartenplätze"," mehr Krippenplätze"! Alles Punkte, die wirklich völlig neu waren - und auf die sicher noch kein Mensch gekommen war :-). Keine Spur von Gespräch darüber, wie man dorthin gelangen sollte. 

Wir näherten uns dem Ende der Runde:

Jeder Experte bekam nun 2 bunte Moosgummi-Klebepunkte (sowas hab ich zu Hause auch :-) *lach), um die Dringlichkeit der Umsetzung dieser Lösungen für sich festzustellen?! Auf meine Frage, ob ich noch mehr Klebepunkte haben könnte, wenn ich nicht nur 2 Punkte für die oberste Priorität hielt, bekam ich die Antwort: "Nein, das muß so sein" ......Brav ging ich also nach vorne und stand hilflos vor einer Überzahl von Schlagworten und sollte nun schweren Herzens entscheiden, wo ich meine 2 armseligen "Babber" anbringen sollte. Dabei wurde mir von anderen "hilflosen Experten" auf die Finger geschaut. Völlig resigniert und enttäuscht bis ins Mark, klebte ich nun "irgendwo" und ging an meinen Platz zurück. Als wir alle fertig waren mit der Klebeaktion hafteten nun die meisten Punkte auf dem Feld "bessere Ausbildung", so das unser sensationelles Ergebnis der genialen Expertenrunde am Flip-Chart klar abzulesen war: 

"Bessere Ausbildungen lösen das Problem von Vereinbarkeit von Familie und Beruf"?! Frau Rowley war etwas blass

und fragte zum guten Schluß, was denn nun mit diesem hochinteressanten Ergebnis hier geschehe. Wir wurden darüber aufgeklärt, dass dieses Ergebnis an die Regierung weitergeleitet würde. 

Wir verließen wortlos das Ministerium.

Nachdem wir dann unsere Strafzettel an unseren Autos von der Windschutzscheibe genommen hatten, fuhren Frau Rowley und ich verwirrt und ungläubig nach Hause. Ich konnte nicht glauben, dass dies der Gang der Politik gewesen sein sollte. Schweigend fuhren wir beide in unsere Wigwams und wußten nicht, was wir hier "mitgenommen" haben sollten.

Ich für meinen Teil habe nichts von dem gesagt, was ich eigentlich sagen wollte und überlege seitdem wie eine bessere Ausbildung für Mütter - Wartelisten und Öffnungszeiten in einer Kinderkrippe beeinflussen könnten ;-). Vielleicht bin ich ja noch nicht Expertin genug um dieses zu verstehen! Was meinen Sie? 

Aber weil ich heute so gut drauf bin, setz ich hier noch einen drauf :-)..... 

Tage nach dem Expertengespräch schlug ich die Tageszeitung auf und fand folgenden Artikel: "3750 € Einkommen für Familien": "Familienhaushalte haben durchschnittlich im Monat ein Netto - Einkommen von 3753 Euro zur Verfügung". Das teilte das statistische Bundesamt in Wiesbaden zum Internationalen Tag der Familie am 15 Mai mit. Als Familienhaushalte gelten Paare mit unter 18 -jährigen Kindern. Je nach Kinderzahl gäbe es nach den Ergebnissen der Einkommen - und Verbraucherstichprobe (EVS), die sich auf erste Halbjahr 2003 beziehen, deutliche Unterschiede. Während das Einkommen bei Paaren mit einem Kind bei 3256 Euro im Monat liege, könnten Paare mit zwei Kindern (4026 Euro) auf rund 750 Euro mehr zurückgreifen. Paare mit drei Kindern brächten es auf 4364 Euro. Mit höherer Kinderzahl steige zugleich der Anteil des Einkommens, der auf die hohe Kante gelegt werden könnte. 

Ich war geschockt. Gleichzeitig überlegte ich mir, welche "Experten" denn hier am Werk waren :-)?! 

Geblieben ist mir der Gedanke: Wenn ein Haushalt mit 1 Kind NETTO 3753 € monatlich zur Verfügung hat, ist es doch absolut kein Problem 100 € mehr für einen Krippenplatz auszugeben - oder?! Wenn Experten feststellen, dass Wartelisten verschwinden, wenn Frauen bessere Ausbildungen haben, gibt es keine Veranlassung mehr Betreuungsplätze zu schaffen - oder ?! Die Arbeit der Politiker kann natürlich nur so gut sein, wie die Infos, die sie erhalten. Aber solange Experten entweder solche Infos weitergeben, oder bei Befragungen mit einem "Maulkorb" dasitzen, oder Experten gefragt werden, denen der Rundumblick fehlt, wird es keine brauchbaren Lösungen für die "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" geben. Wo sitzen denn die wirklichen Experten - sind das nicht in Wahrheit die Menschen wie Du und ich, die den Spagat zwischen Familie und Beruf täglich vorbildlich leisten? Sind das nicht Menschen, die sich tagein tagaus um die Belange der Eltern bemühen? Sich zwischen Gesetzen und Vorschriften bewegen müssen, die im wahren Leben - nicht umzusetzen sind ? 

Frau Rowley bemerkte zu diesem Info-Brief noch passend:

Ein guter Stratege bestimmt, in welchem Dschungel wie und mit was gekämpft wird, und ein schlechter versorgt seine Mannen nur mit Macheten und läßt sie dann beim Gang durch denselben alleine mit ihrem vielleicht unbrauchbaren Werkzeug! So liebe Tagesfamilien, liebe Eltern, Frau Rowley und ich brauchen Urlaub - und zwar echt dringend - aber seien Sie sicher, wir kommen gestärkt und mit neuen Kräften wieder an unseren Schreibtisch zurück - und werden weitermachen - mit welchem Werkzeug auch immer :-). Es grüßt aus dem Hessenland Ihre 

Anette Vanderwege Wigwam 2 - Hochheim/Massenheim

Wigwam 1994
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Universitätsmedizin Mainz