Saturday, 5. July 2014

Autor: Susanne Rowley

Neue Studie zur frühkindlichen Sozialisation

Der Mensch ist mehr als Hard- und Software.


www.sueddeutsche.de/bildung/fruehkindliche-entwicklung-spitzenforscher-fordern-mehr-bildung-fuer-kleinkinder-1.2029378

Liebe Wigwam-Freunde,

Der Mensch ist mehr als die Hard- und Software eines Computers

Das ist für mich die Kernaussage einer neuen Studie zur frühkindlichen Sozialisation, die just herausgekommen ist. Schön! Betrachtet man jedoch alleine schon die Überschrift, mit der die Süddeutsche dazu titelt, muss man sich fragen, wie viele Eltern, Fachleute und Verantwortliche wird es geben, die wiederum nur diese Überschrift lesen, und somit eine vorschnelle Botschaft daraus mitnehmen:

also noch mehr frühkindliche Bildung rein in die Gehirne unserer Allerkleinsten?

Ich habe mir die Zeit genommen, die Studie vollständig gelesen, die hier abzurufen ist:

www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2014_Stellungnahme_Sozialisation_web.pdf

Und ich finde es bedauerlich,

was daraus in den diversen Presseberichten schlussendlich wieder gegeben wird. Denn die Forscher, stellen eben gerade nicht nur auf frühkindliche Bildung ab, sondern definieren sehr genau, welche Voraussetzungen und Grundlagen gegeben und geschaffen werden müssen, damit diese auch beim Kind umfassend Wirkung zeigen kann.

Die Forscher betonen nämlich,

dass ein hoher Intelligenzquotient, also Anlagen, die ein kleiner Mensch mit ins Leben bringt, ebenso wie angesammeltes Wissen nur dann zur Entfaltung kommen, wenn zuvor für ausreichende Schutzfaktoren wie Widerstandskraft und die emotionale Fähigkeit mit Belastungen im Leben umzugehen, also die sogenannte Resilienz, Sorge getragen wurde. Eine innere Stärke also, die dazu verhilft, von außen auf einen Menschen einwirkende Risikofaktoren und Rahmenbedingungen, die er sich erfahrungsgemäß nicht selbst aussuchen kann, angemessen zu begegnen. Und dazu gehört ganz ohne Zweifel eine bzw. die feste Bezugsperson, auf die er sich beziehen kann und die ihm 1 zu 1 spiegelt:

Du bist von Wert.

Dass die Forscher in der Studie beim möglichen Nichtvorhandensein eines solchen Nährbodens vorrangig auf Armutsfamilien und Familien aus sogenannten "bildungsfernen Schichten" schielen, und/oder auf überlastete Eltern, die ihrerseits Probleme schon mitbringen, ist aus Sicht und Aufgabenstellung der gesamten Studie zu verstehen. Das Ursache-Wirkung-Verhalten aber, welches die Forscher daraus ableiten, ist selbstverständlich und gerade auf die aktuelle Diskussion bezüglich der schlechten Betreuungsqualität zu übertragen, die dieses Umfeld oft nicht bieten kann. Ein Umfeld, in dem die 1-jährigen eben keine Bezugspersonen vorfinden, weil der Personalschlüssel es nicht hergibt.

Ein großes Stichwort,

das sich in diesem Zusammenhang somit durch die gesamte Studie zieht, ist „Selbstkontrolle“ und die damit verbundene soziale Kompetenz. Kurz gesagt, es gibt für jeden Menschen, der Mutter Erde betritt, ein soziales, kulturelles Kapital, getoppt durch Eigenkapital. Das nun wiederum stößt auf außerfamiliäre Bedingungen aller Art, gepaart mit neuronalen Entwicklungsprozessen, die zum richtigen Zeitpunkt gefördert werden oder aber verhungern müssen.

Welche Defizite sind nun irreparabel

und welche können durch deutlich verbesserte Bedingungen wann aufzuholt werden – das ist die spannendste Frage, der die Studie im Grunde wirklich nachgeht!

Denn:

Lesen wir weiter, entdecken wird, dass die Forscher immer wieder darauf hinweisen, dass sensible Phasen im Leben eines Kleinkindes unbedingt Berücksichtigung finden müssen, und dazu gehört ganz unumstritten in den extrem frühen Phase die unabdingbare Liebe, die Zuwendung und die Bindung an einen anderen Menschen, der ihm offen und ganz individuell zugeneigt ist. Schlussendlich heißt es das, was bereits auf den allerersten Seiten der Studie zu lesen steht. Maßnahmen der Förderung müssen zum richtigen Entwicklungszeitpunkt angeboten werden, und das gilt eben nicht nur für eine mögliche Sprachentwicklung ausländischer Kinder, sondern das gilt selbstverständlich und vor allen Dingen für die ganz Kleinen und ihre Bedürfnisse nach Bindung.

Von daher wäre es zu kurz gesprungen, 

die Studie auf den Nenner zu bringen „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ Es geht viel mehr um ein hochsensibles Zusammenspiel von vielen Faktoren, die, wenn sie im jeweiligen Stadium keine Beachtung finden, sich unterschiedlich auswirken auf weitere Lebensprozesse – hin bis zum „erfolgreichen Altern“.

Um die Studie also richtig zu verstehen,

müsste man sich zunächst einmal die Mühe machen, zu verstehen, was mit den einzelnen Begrifflichkeiten wie: Lernen, Konditionierung, Bildung, Wissenserwerb, und Training zu verstehen ist. Besonders gut gefiel mir von daher die Darstellung in der Studie über folgenden Vergleich:

Soft- und Hardware eines Computers:

Während beim Computer glasklar unterschieden werden kann zwischen der Struktur des Systems und seinen Bausteinen und andererseits seiner Funktion, für die es quasi ausgelegt ist, ist das beim Gehirn-Geist System des Menschen so nicht möglich. Das bedeutet übersetzt, dass Verhaltensänderungen oder auch Bildung an sich immer auch einwirkt auf neuronale Prozesse im Gehirn eines Menschen, und damit beeinflussen sie sich logischerweise in ihrer Wirkung. Was sich aus dieser Erkenntnis ergibt, muss glaube ich nicht nochmal gesagt werden. Oder doch?

Bei allem und jedem, was wir mit Kindern veranstalten,

ist zu berücksichtigen in welchen Stadium ihrer Entwicklung sie sich befinden. Tun wir das nicht, gehen wertvolle Entfaltungsmöglichkeiten verloren.

Spannend zu lesen waren auch jene Stellen der Studie, in denen über atypische Erfahrungen von Kindern sowohl bereits im Mutterleib als auch für einen begrenzten Zeitraum nach der Geburt referiert wurde. Dies wurde anhand von körperlichen Störungen aufgegriffen, z.B. ab Geburt ein erschwertes Sehvermögen, das zum Verlust von wertvollen Erfahrungen führt, die auch dann nicht korrigiert werden könnten, wenn jene Sehschwäche zu einem späteren Zeitpunkt korrigiert würde. Angeführt wurde dieses Bsp. Zwar "nur", um in anderen Zusammenhängen zu belegen, was denn mit Kindern geschehen könne, die eine Zweitsprache erst nach dem 4. Geburtstag erlernen. Mein Gedanke dabei war aber auch, was geschieht dann erst mit Kindern, die in den ersten beiden Lebensjahren keine Bindung erfahren?

Die Antwort steht, für die, die das Richtige lesen wollen, geschrieben.

Was mich an dieser Studie als Laie sehr nachhaltig beeindruckt hat, ist die sich wiederholende Feststellung, wie schwierig es offensichtlich ist, gewisse Leistungsmerkmale festzustellen, bzw. sie in ihrem jeweiligen Kontext zu beurteilen. Das ist immer dann ganz einfach, wenn es um Faktoren und Umstände geht, die sich „messen“ lassen. Schwierig wird es wohl immer bleiben, zu beantworten, warum der eine Mensch zeitgleich sehr ängstlich an Dinge herangeht, oder eine frühe Erschöpfung zeigt, obwohl er "das Zeug" zur Bewältigung mitbringt. Ich finde gerade das sehr bemerkenswert, denn so wie fehlendes Wissen nicht mit nackter Hardware, also Intelligenz, ersetzt werden kann, so ist es ebenfalls nicht möglich, durch Anhäufung von Wissen, den allgemeinen Quotienten oder gar die Widerstandskraft anzuheben.

Sehr lehrreich - nicht wahr?

Für mich persönlich sehr leicht verständlich, denn dazwischen liegen Motivation, Interesse, Selbstwertgefühl, Lebensfreude, alles Resultate aus frühkindlichen Erfahrungen aller Art. Wie die Fugenmasse eben auch, die ein ganzes Gebäude zusammenhält. Faktoren müssen also nicht nur gegeben sein, und sie können auch nicht, und wie 1 und 1 zusammengezählt werden, sondern sie müssen auf einen Nährboden treffen, der ihre Entfaltung erst möglich macht.

Das Leben muss bewältigt werden!

Und jene Kraft, die uns das Leben bewältigen lässt, entspringt aus einer nicht mess-baren Quelle.

DAS gefällt mir!

Besonders hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Stellen ab Seite 98 – hier beginnt die Studie mit dem Aufräumen von Mythen / Fakten / Folgerungen, die nicht mehr ganz so wissenschaftlich daher kommen, die sich dem wachen Leser aber sofort erschließen.

Ich wünsche allen Wissenschaftlern

an dieser Stelle – möge sich das Geheimnis des Lebens Euch niemals so ganz erschließen, denn dann hättet Ihr ein völlig neues Problem, das da lauten würde: wie wirkt sich die bis in die letzten Ritzen gesättigte Neugier auf den Menschen aus.

Eure Susanne Rowley

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