Sunday, 15. March 2015

Autor: Susanne Rowley

Moderne Kindheit - geprägt von ersatzloser Streichung natürlicher Lebenszusammenhänge

Vom Verschwinden der "kindischen" Kindheit, in einer modernen Welt.

Die moderne Kindheit hat zugunsten einer völligen Institutionalisierung eine "ersatzlose Streichung" der Einbettung in natürliche Gegebenheiten & Abläufe erfahren. 

Liebe Wigwam-Freunde,

eine unbeschwerte Kindheit sollte davon geprägt sein, sich von der „wissenden Welt“ der Erwachsenen solange abzugrenzen, bis sich das Geheimnis des eigenen Lebens lüften möchte.

Beginnen möchte ich heute mit einem Zitat, das sicher nicht unbekannt sein dürfte, in seiner Kernaussage wie eine Gefühlsduselei daher kommt; aber viel schwerer wiegt, als beim schnellen Lesen angenommen:

>>   Die großen Leute haben eine Vorliebe für Zahlen.

Wenn ihr ihnen von einem Freund erzählt, befragen sie Ech nie über das Wesen-tliche.

Sie fragen Euch nie:

Wie ist der Klang seiner Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge?

Sie fragen Euch:

Wie alt ist er? Wie viele Brüder hat er? Wie viel wiegt er? Wie viel verdient sein Vater?

Dann erst glauben sie, ihn zu kennnen <<

*Antoine de Saint-Exupéry

Als ich 1994 begann, mich der Kindertagespflege zu widmen,

sie so dann & alsbald zu meiner heimlichen und später offen zur Schau getragenen großen Liebe wurde, war ich mir sicher, dass sie irgendwann ihren Stellen-Wert in der Gesellschaft erringen würde.

Unterwegs musste ich jedoch feststellen,

dass sie einen Umweg genommen hat von der Bedeutungslosigkeit hin zur Klassifizierung als Nebenprodukt von Bildung & Förderung.

Mein Ziel noch fest vor Augen,

freue ich mich auf den Tag, an dem sie als das erkannt werden wird, was sie ist. Sie ist Basis & Nährboden für alles, was eine moderne Gesellschaft braucht. Warum ich eine solch kühne Behauptung aufstelle, möchte ich Ihnen gerne erläutern.

Die moderne Berufswelt

hat dafür gesorgt, dass natürliche Familien-Verbünde von generationenübergreifenden Lebensformen kaum mehr einen Stellenwert haben. Dieses Rad zurück zu drehen, wird uns nicht mehr gelingen. Welche Bedürfnisse von Kindern, oder besser gesagt, welch' wichtige Aufgaben & Anforderungen an Kindheit als solches gleich mit zerstört wurden, ist uns nicht bewusst. Heute kriecht uns eine vage Ahnung von jenen Verlusten ins Bewusstsein, aber wir haben keine Lösung dafür.

Es gibt so viele wunderbare Worte in der Deutschen Sprache,

die man nur einer näheren Betrachtung unterziehen müsste, und ihre tiefere Bedeutung würde die Lösung gleich mit liefern.

Ein Wort, das ich besonders liebe ist

                     „Einbettung“.

Ich muss nicht auf Wikipedia schauen, um zu erkennen, was es Kindern bedeuten kann. Es ist weit mehr, als das Wissen um Zugehörigkeit zu einer klassischen Familie; es ist viel mehr geprägt von einem Selbstverständnis in Sachen Rollen & Aufgaben, die nur ein Ring von echten Bezugspersonen an Kinder weitertragen kann.

Ein Kind braucht

eine Mutter, die für seine tiefe emotionale Nahrung und Versorgung zuständig ist. Ganz zu Anfang ist es sogar Verschmelzung, die ihm keine Angst bescheren muss, weil es sich seiner ureigenen Körperlichkeit bewusst werden wird. Ein Kind braucht Väterliches für das Erkennen der Andersartigkeit von Männlichkeit, sei es für Herausforderungen, für Forscherdrang, für die Entdeckung der weiten Welt – seine Zukunft. Ein Kind muss Großelterliches fühlen; es erkennt darin die Generationenabfolge – Vergangenheit & Zukunft, gerne auch alte Bräuche & Sitten, gelebtes Leben, gelebte Erfahrung, die Einordnung von historischen Abläufen in Grenzen & Möglichkeiten, die Entwicklung per se bedeutet.

Ein Kind kann Geschwister gut gebrauchen, für den Vergleich, das Spiel der Kräfte, das Messen in Freundschaft, Orientierung in der Gleichaltrigkeit. Wer diese Funktionen inne haben kann, ist aus meiner Sicht begrenzt.

Für solche Funktionen,

da werden Sie mir sicher zustimmen, bedarf es keines Trauscheins, eines leiblichen Vaters oder einer echten Großmutter. Es darf auch der Spielkamerad, der Lebenspartner, der Trainer, der enge Vertraute der Familie, die beste Freundin der Mutter, die Tagesmutter sein.

Aber diese Rollen müssen sein!

Gehen wir nun davon aus – und davon gehe ich aus – dass diese kindlichen Grundbedürfnisse ein Muss sind, um sich innerhalb einer komplexen Welt vorbereiten und einordnen zu können, müssen wir uns fragen, wer diese Aufgaben bitte zukünftig übernehmen soll?

Schauen wir nun – angelehnt an mein obiges Zitat – in das heutzutage geltende Verständnis von Bildung, das immer früher in einer Einrichtung beginnt, können Sie sich den Rest schon fast denken.

Ich hätte kurz gefasst nun auch schreiben können –

keine Bildung ohne Beziehung –

aber das allein ist mir zu abstrakt und trifft es auch leider schon lange nicht mehr.

Denn die Angst, die ich seit einigen Jahren hege, ist eben nicht nur die Tatsache, dass ein frühes Kinderleben zunehmend in institutionalisierten Händen liegt, sondern die damit unweigerlich eingehergehende Folge, dass dem Verlust der parallel oben angeführten „Einbettung“ keinerlei Bedeutung beigemessen und schon gar kein nennenswerter Ersatz vorgehalten wird.

Bindung bezeichnet

in seinen Urzusammenhängen nichts weiter, als eine tiefe Beziehung zu einer vertrauten Person.

Dass diese not-wendig ist, spüren wir auch als Erwachsener Mensch immer dann, wenn wir uns in „schwachen“ Momenten nicht jedermann/frau anvertrauen würden. In sicheren Zeiten – und nur dann! – besinnen wir uns auf ein exploratives Verhalten. Wir gehen hinaus, wir versuchen was, wir sind uns unserer Außenwirkung sicher, wir gehen auf Erkundungstour mit einem kräftigen Schuss Neugier im Rucksack.

Und hier sehe ich das Problem.

Das Verständnis von „frühkindlicher Bildung“ beruht einzig auf dieser Art von Explorationsverhalten.

Der emotionale Austausch von Intimität und Kontinuität, wie sie nur eine echte Beziehung bieten kann, ist in Einrichtungen ganz sicher nicht ausreichend gegeben.

Dort sind ErzieherInnen mit mehr oder wenigem guten „Zahlenschlüssel“ für ein Kind „zu-ständig“ – dies sind sie aber ganz sicher nicht be-ständig. Und schon gar nicht sind sie in der Lage, die Perspektiven eines Lebens abzubilden, wie es ein bunter Verbund von Menschen kann, mit denen ein Kind in verbindliche Beziehung treten sollte, um sich darin zu spiegeln.

Und deswegen ist der Satz

„Wer Bildung will, muss sich zuvor auf Bindung eingelassen haben“

keine hohle Phrase.

Denn nur wer psychische Sicherheit empfindet, kann sich auf die große Welt des Wissens einlassen und wird die berühmte, allseits beschworene Teilhabe an Lernprozessen durchlaufen können.

Aber nochmal zurück

zur Auflösung der generationsübergreifenden Strukturen, die keinen Ersatz gefunden haben.

Das Zusatzproblem sehe neben diesem Umstand darin, wie sich das

Bild von „Bildung“

erschwerend gewandelt hat. Bildung ist behaftet mit der Vorstellung von geistigem Lernen als Inhalt. Und von oben eingetrichtertem Wissen, das uns vorgetragen wird. Wir sind geradezu besessen von der Grundintelligenz, die wir beim Kind zu finden hoffen; und diese gilt es zu fördern. Treffen wir z. B. dann bei dem Versuch, ein Kind musikalisch zu bilden, auf einen notentechnischen Vollpfosten ;-) sind Eltern irritiert. Treffen wir aber auf einen grobmotorischen Blindgänger, sind wir ganz schnell mit der Anmeldung bei professionellen Helferlein, die dieses Defizit ausgleichen sollen.

Warum frage ich mich,

muss dies ein Defizit sein. Vielleicht ist es nichts weiter als ein Schuss vorbei am Eigentlichen –

der Begabung.

Alles, was einen Menschen berührt, und alles was ihn zu berühren vermag, ist viel mehr dazu geeignet, seine Neugier zu wecken. Und hier möchte er seinen Wissensschatz erweitern. Sorry – aber damit bin ich wieder bei der „gefühlten Bildung“, die ich erst mal ausgeprägt haben muss, wenn ich in engen Bezug zu Menschen treten soll, die mir etwas bei-bringen möchten. Ich bin klein, mein Herz ist rein, die anderen senden, ich empfange, und sende zurück.

Bevor sie mir also mit Werten & Regeln daherkommen können, müssen sie erst mal die Basis dafür schaffen, dass Vertrauen in die Information entsteht.

Und von daher kann der Bildungsauftrag, den eine pädagogische Institution bietet nicht

der Weisheit „erster“ Schluss sein,

denn sie bietet einem Kind nicht die Möglichkeit, sich in Leitbildern zurecht zu finden,

sie hat nichts weiter auf der Pfanne als eine nackte Konzeption.

Beobachtung & Dokumentation ersetzt keine Freundschaften. Elterngespräche haben nichts von Partnerschaft an sich. Eingewöhnung hat nichts mit Beziehung zu tun. Das Üben von Trennung bedeutet lange noch nicht, mit sich alleine sein können. Sie bietet in Sachen Beziehung nur, was „kündbar“ ist. Echte Beziehung ist unkündbar – auch dann, wenn sie scheitert. Sie hat stattgefunden, sie hat einen Erfahrungsschatz hinterlassen, sie hat uns weiter getragen.

Hey - und wenn wir schon gerade so schön dabei sind, möchte ich auch noch jene provokante Frage in den Raum werfen: Wie viel Spielraum bietet mir die klassische Bildungsberieselung? Habe ich einen Schaffensanteil daran? Hab ich an irgendeiner Stelle mitwirken können? Also ich finde selten einen Weg so gut wieder, wie nach einer Fahrt selbst am Steuer - als Beifahrer ziemlich selten. (OK - mein Defizit?)

Dass all‘ dies in einer sich so stark wandelnden Gesellschaft

vielleicht nicht mehr verwandtschaftlich zu erledigen ist, muss keine Katastrophe sein, aber wir müssen dafür sorgen, guten Ersatz zu stellen.

Mit dem kleiner und anders Werden von Familien und dem damit einhergehenden Schwund von engsten Bezugspersonen muss man umgehen.

Diesem Umstand ist übrigens auch die vielfach beschriebene Überforderung von Eltern geschuldet. Aufgaben, die nicht mehr auf mehrere Schultern verteilt werden können, haben nun mal die Anegwohnheit, auf einer zu landen.

Dass Kinder, die sich nicht geborgen und eingebettet fühlen, dazu neigen, sich andere Gruppierungen zu suchen, und dass dies nicht immer „förderliche“ sind, dürfte auch keine Neuigkeit sein.

Ich bitte abschließend darum,

mich nicht falsch zu verstehen. Ich prangere nicht die Familie im Wandel an, weil der Wandel stellenweise auch unvermeidbar gewesen ist – allein schon im Hinblick auf die Rolle der Frau u.v.m.

Ich prangere an, welche Antworten wir auf diese offenen Fragen gefunden haben.

Keine.

Schließen möchte ich mit einem Hinweis

auf ein nicht ganz unmodernes Buch, das mir vor vielen Jahren ins Auge fiel, und geschrieben wurde von Neil Postman

„Das Verschwinden der Kindheit“.

Dieses Buch hatte vor ca. 20 Jahren für maximale Aufruhr gesorgt, denn es hatte aufgrund des Raumgreifens der Medien, die Frage aufgeworfen, ob Kindheit von Kindern zunehmend als „Kindisch“ empfunden würde, weil sie allzu früh mit der ganzen Komplexität der Erwachsenenwelt berieselt würden, so dass ihnen die ureigenen Chancen genommen würden, sich in ihrem eigenen Entwicklungsprozessen zurecht zu finden.

Mit diesem Buch hat Postman durchaus einen gewissen Nerv getroffen, denn es beschreibt den Verlust der Kindheit.

Eine unbeschwerte Kindheit

sollte davon geprägt sein, sich von der „wissenden Welt“ der Erwachsenen solange abzugrenzen, bis sich das Geheimnis des eigenen Lebens lüften möchte.

Die Frage nach der Existenz des Weihnachtsmanns ist demzufolge schon lange beantwortet: Ja es gab ihn mal.. ;-)

Es grüßt herzlich

Eure Susanne Rowley

*die jetzt für den Rest vom verbliebenen Sonntag irgendwas "Kindisches" macht ;-)

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