Sunday, 17. May 2015
Es gibt keinen 2. Bindungsweg - einen 2. Bildungsweg aber schon
Das, was unser Verhalten, insbesondere in Beziehungen, ein ganzes Leben lang prägt,
und damit in glückliche, verhaltene oder unglückliche Bahnen lenken kann, sind unsere frühesten Erfahrungen mit Bindung. Und zwar ausgerechnet in der Zeit, an die wir uns kaum erinnern können
– die frühe Kindheit.
Und wer schon einmal eine Therapie in dieser Hinsicht versucht hat, weiß, wie schwer bis unmöglich es sein kann, diesen Mustern zu entkommen. Was in der Regel gelingt, ist die Bewusstmachung, dass sie an uns zerren.
Einmal neu bitte - geht leider nicht.
Es gibt ihn aus meiner Sicht also nicht wirklich, den „2. Bindungsweg“, hingegen wir uns Wissen auf dem „2. Bildungsweg“ sehr wohl aneignen können.
Ich möchte meinen heutigen Artikel mit einer provokanten Aussage beginnen:
Wenn es „fremd“ ist, ist es keine Beziehung. Wenn es „fremd“ ist, ist es keine Betreuung. Dann ist es allenfalls ein Verhältnis. Diese Aussage stelle ich heute in den Raum – verbunden mit der Aufforderung, sich Worte, derer wir uns tagtäglich bei der Kinderbetreuung bedienen, genauer anzusehen, um sich ihrer Wirkung auf uns bewusster zu werden. Das würde helfen, komplexen Problemstellungen schneller auf den Grund zu kommen.
Bilder der genialen Malerin Loretta Lux berühren mich.
Warum ich ihre Werke heute in meinem Artikel vorstellen möchte, erläutere ich weiter unten; es lohnt sich also "am Ball" zu bleiben - schon deswegen, weil das Kind auf dem Bild gar keinen hat...
Worum geht’s mir heute:
Es ist wieder viel in Bewegung geraten in diesen Wochen in Sachen Vereinbarkeit von Beruf & Familie. Die Kinderbetreuung und jene, die sich um unsere Kleinen sorgen sollen, stehen derzeit im Vordergrund des öffentlichen Interesses. Der Kita-Streik ist in vollem Gange, ebenso die Diskussion, was uns jene wert sind, denen wir das Liebste anvertrauen. Das sind schwierige Zeiten – aber in ihnen liegt auch die Chance auf Erkenntnis, wenn wir sie nutzen.
In meiner 22-jährigen Arbeit war es mir immer vergönnt,
Stimmungen von Eltern aufzuschnappen. Sicher haben diese keinen wirklich repräsentativen Charakter, aber sie zeigen einen bemerkenswerten Ausschnitt und decken sich mit dem, was ich auch im öffentlichen Raum wahrnehme. Und ich nehme wahr, dass Eltern beginnen sich zu bewegen. Eltern zeigen sich zum einen solidarisch mit streikenden Erziehern, und sie hinterfragen vermehrt, was ihren Kindern in unseren Einrichtungen eigentlich widerfährt.
Auf den ersten Blick könnte man meinen,
dies sei lediglich ein Zeichen dafür, dass eine Qualitätsdebatte, die bislang vornehmlich unter sogenannten Experten geführt wurde, endlich bei jenen angekommen, die es betrifft.
Ich sehe eine Chance auf mehr darin.
Während es draußen auf den Straßen um ein mehr an Vergütung und damit um ein mehr an Wertschätzung für ein mehr an Bildungs- und Förderaufgaben geht, befassen sich Eltern in meinem Umfeld und in den zahlreichen Blogs mehr und mehr mit dem Wert von "Kindheit" als solches. Sie vermissen ganz deutlich "Etwas" - man könnte fast den Eindruck gewinnen, sie betrauern sich selbst..
http://geborgen-wachsen.de/2015/05/17/mit-kindern-im-wald-spielort-und-schule/
Und ich warte auf den Tag, an dem eine(r) DEN NERV trifft.
Wie ich das meine?
Kinderbetreuung -
Ein Thema, an dem sich die Geister scheiden, solange ich denken kann. Die Lager. Befürworter & Gegner kennen sie; ihre „Un-Art“ sich gegenseitig auszuschließen und sich hier und da auch "des schlechten Gewissens“ von Eltern zu bedienen, habe ich in zahlreichen Blogbeiträgen beschrieben. Beide Lager sind mächtig bemüht um das Was – nicht aber um ein Wie und Wann. Aber immer dann, wenn’s um diese Differenzierungen geht, kommen wir der Lösung näher.
Erinnern Sie sich?
Mitten in unsere tägliche Bildungsdebatte ploppte vor Monaten ein kleiner Tweet
einer 18-Jährigen auf, in dem sie beklagte, sie habe keine Ahnung von Miete oder Versicherungen, könne aber eine Gedichtanalyse in vier Sprachen schreiben.
Das hat den Nerv getroffen.
Sie traf ihn, obwohl der Kern der Aussage gar nicht wirklich neu ist:
Non vitae, sed scholae discimus - Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir - ist ein Zitat von Seneca, mit der er die Philosophen seiner Zeit bezichtigte, nur stumpfes Wissen in Kinder hinein zu geben.
>> Kinderspiele sind es, die wir da spielen. An überflüssigen Problemen stumpft sich die Schärfe und Feinheit des Denkens ab; derlei Erörterungen helfen uns ja nicht, richtig zu leben, sondern allenfalls, gelehrt zu reden. Lebensweisheit liegt offener zu Tage als Schulweisheit; ja sagen wir’s doch gerade heraus: Es wäre besser, wir könnten unserer gelehrten Schulbildung einen gesunden Menschenverstand abgewinnen. (..) <<.
Ihr Tweet jedenfalls verbreitete sich in Windeseile
tausendfach im Netz und wurde zum politischen Thema. Sogar unsere Bundesbildungsministerin fühlte sich berufen, ihr irgendwie beizupflichten. Heraus kam aber nicht mehr als ein gnädiges >> Ich bin dafür, in der Schule stärker Alltagsfähigkeiten zu vermitteln. Es bleibt aber wichtig, Gedichte zu lernen und zu interpretieren. << Und Sylvia Löhrmann, Schulministerin in NRW fragte gar, wie es wohl zu schaffen sei, Verbraucherbildung stärker in Lehrplänen zu verankern, ohne dass man an Bildungsmenge nur aufsattele. Das bayerische Kultusministerium (wen wundert es) schoss aus meiner Sicht mit der Äußerung, Lehrer seien aus fachbezogenen Gründen gar nicht in der Lage Alltagswissen zu vermitteln – so etwas werde in zahlreichen Kooperationen von Schulen mit Landfrauen bereits praktiziert, den berühmten Vogel ab.
Fakt ist, ein solcher Tweet muss auf einen bestimmten Zeitgeist oder eine gesellschaftliche Stimmung treffen, damit er sich so stark verbreiten kann. Und einen Nerv trifft man wohl, wenn einer ausspricht, was viele bislang nur denken.
Und ganz ehrlich -
Darauf warte ich in der Kinderbetreuung seit 2 Jahrzehnten.
Wir haben uns gesellschaftlich in weiten Teilen darauf verständigt, dass Bildung & Förderung von Kleinkindern ihnen eine Chance bietet, ihr späteres Leben unabhängig von Herkunft & Familie zu meistern. Bildung ist mit Sicherheit ein Schlüssel dazu.
Aber etwas scheint uns dabei abzugehen. Und der Tweet der jungen Frau zeigt neben der Absicht, die dahinter stand eines sehr deutlich:
Wenn Bildung & Förderung mehr und mehr Raum einnehmen, muss etwas anderes vorher gewichen sein.
In jenem Tweet waren es die praktischen Fertigkeiten des Alltags, für die im Schulwesen kein Raum ist. In der Kinderbetreuung verdrängen Bildung & Förderung die Bindung und damit ein elementares Stück Kindheit selbst.
Es steht für mich in der Qualitätsdebatte also nicht nur die Frage im Raum, wie wir bilden & fördern, sondern auch AB WANN.
Und fest steht, wir tun es immer früher.
Aber kommen wir nochmal zurück zur Sprache.
Ich schrieb zu Beginn meines Artikels: wenn es fremd ist, ist es keine Betreuung. Dennoch reden wir von Fremdbetreuung. Und dazu passt auch der Ausdruck: Betreuungsverhältnis. Personen verhalten sich zueinander – sie stehen aber nicht unbedingt in einer Beziehung zueinander – dazwischen ist eine wie auch immer geartete sachliche Grenze. In der Mathematik und in den Naturwissenschaften bezeichnet ein Verhältnis in der Regel wie zwei Größen zueinander stehen. Man kann viel mit ihnen anstellen, aber sie vermischen sich nicht.
In einer Beziehung hingegen,
geht es um den Bezug zu einander, den Kontext, den Zusammenhang und Zusammenklang. Nun erlaube ich mir die Frage. In welcher Beziehung oder Verhältnis können in einer Einrichtung Pädagogen und Erzieher massenhaft zu Kindern stehen? Und was ist hingegen möglich in einer Kindertages-Pflege.
Die Antwort darauf für die Allerkleinsten, die auf Beziehung angewiesen sind, überlasse ich Ihnen.
Ans Herz legen möchte ich Ihnen an dieser Stelle viel mehr Bilder,
die mich sehr berührt haben: Besuchen Sie die Ausstellungen von Loretta Lux (klicken Sie hierzu auf obiges Bild) und wandern Sie einmal durch die „work I bis VI“.
Sie zeigt Kinder vorwiegend in Erwachsenenposen!
Mädchen im bürotauglichen Kostüm, Geschwister in Queen-Mum-Mänteln, ein Knirps im Anzug, konzentriert wie ein Vorstandsvorsitzender.
>> Im Reich der Eltern << so titelte ein Artikel in der Zeit/Wissen aus dem März diesen Jahres.
>> Das Wort "Eltern" ist es, das uns zu einer zweiten Suche zwingt. Die uns näher heranführt an die Irritation, das leichte Unwohlsein, das wir beim Betrachten der Bilder verspüren. (..) Wie sie dastehen, wie Sonntagsspaziergänger, das Haar gekämmt, mit Spangen gebändigt, die Kleidung fleckenlos rein, in Erwachsenenpose vor übersichtlicher Schlossparklandschaft, die allenfalls dadurch bedrohlich wirkt, dass nichts an ihr bedrohlich ist. Was würden sie antworten, wenn man sie fragte: "Kommst du spielen?" – "Ich muss gleich zu Flöte." – "Ich schreib morgen Mathe." – "Auf Bäume klettern ist gefährlich."
Ja, so könnte es sein: Loretta Lux hat die Königskinder von heute fotografiert, die Töchter und Söhne der Mittelschicht. Natürlich sehen die Maximilians und Charlottes, Carls und Sophias der Jetztzeit nicht so aus wie die kaltäugigen Kinder auf Lux’ Bildern. Auch wünschen wir Eltern uns nicht, dass unsere Kinder jemals so unkindlich aussehen.
Aber könnte es sein, dass die Fotos uns trotzdem überführen?
Weil sie etwas Unsichtbares sichtbar machen? (..) <<
Alles was Kinder heute tun, muss sich morgen auszahlen.
Ist es nicht so?
Zeit ist entweder "genutzt" und "vertan". Keine Synapse darf verkümmern.
Und die Blogs im Netz der Eltern sind voll davon.
Wo ich auch hin klicke, sie sinnieren über sinnfreies Herumstromern im Wald. Und man bekommt das Gefühl, sie plädieren eigentlich für sich.
Im Zeit-Artikel kommt auch Korczak zu Wort. Von ihm stammt das Zitat: "Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben", Den Kindern riet er: "Habe Mut zu Dir selbst, und suche Deinen eigenen Weg."
Und wer könnte eine engere Beziehung zu Kindern je gehabt haben, denn
>> Als die Nationalsozialisten Polen überfielen, leitete er ein jüdisches Waisenhaus in Warschau. Als die Waffen-SS dann die ihm anvertrauten Jungen und Mädchen ins Vernichtungslager Treblinka deportierte, ging Korczak, um den Kindern die Angst zu nehmen, freiwillig mit in den Tod.) << Was würden die Kinder von damals wohl heute über ihn sagen, lebten alle noch. Er wäre wohl einer ihrer wichtigsten Wegweiser, ein innerer Haltgeber, der halten kann, ohne präsent sein zu müssen.
Lesen Sie hierzu bei Interesse jenen Artikel aus dem Jahr 1990: http://www.zeit.de/1990/45/es-ging-nur-noch-darum-wie-man-stirbt
Geh Deinen Weg
>> Das würde heute, in viel sicheren Zeiten, natürlich jeder unterschreiben, und doch halten Erwachsene – in bester Absicht – kindliche Welten besetzt. Auf Spielplätzen hocken mehr Eltern auf Bänken als Kinder im Sandkasten und schlichten Streit, bevor er begonnen hat. (..) Es wäre verklärend, zu behaupten, dass Kindheit früher total anders war. Auch damals wurden Baumhausbauarbeiten von Blockflötenstunden unterbrochen. Ganz sicher also ist der Rückblick in die eigene Kindheit auch weichgezeichnet und gefühlsduselig. Aber es muss eben doch einiges abseits der geschotterten Wege passiert sein, es muss allerlei Abenteuer neben vorgegebenen Pfaden gegeben haben, genügend jedenfalls, um einen reichen Erinnerungsschatz anzuhäufen: Erinnerungen, in denen es meistens Sommer ist… (..) Selbst wenn diese Erinnerungen verzerrt seien sollten, sind sie doch relevant – weil sie uns bis heute begleiten und beglücken. <<
Der Schlosspark von Loretta Lux ist der sorgsam umzäunte Einfamilienhausgarten von heute.
Auf Loretta Lux’ scheinbar kühlen Fotoarbeiten hat kein einziges Kind ein Fahrrad.
Und doch erzählen sie eine Geschichte. Es wird diesen Kindern nichts zustoßen, aber auch nichts Spannendes widerfahren.
Und was hat das alles mit früher Bindung zu tun?
Sehr viel, denn die frühe Kindheit war einmal ein Raum, in dem Kind mit einer Bindungsperson / Mutter / Oma / Tante / einfach nur sein durfte.
Dieser Raum wird jetzt ziemlich eng!
Liest man die soziologische Literatur, etwa die von Hartmut Rosa, kann man erkennen, dass Zeitstruktur eine Ursache sein kann. Alles ändert sich so rasant, dass wir mit Anpassen gar nicht mehr hinterher kommen.
Das Hauptübel jedoch dürfte der verkehrte Blick auf Kinder & den Stellenwert, den Kindheit hat, sein.
Was zählt sind die Ergebnisse der nächsten Pisa-Studie.
Niklas Luhmann, Soziologe geht sogar noch einen Schritt weiter und erklärt, Kinder seien nur noch als menschliche Trivialmaschinen relevant, kleine Roboter, die man mit bestimmtem Input füttert, um einen erwünschten Output zu erhalten.
Dabei verhält sich Leistungsvermögen in Wahrheit zum Nichtstun besonders gut.
Ein kleiner Mensch kann sich, wie die Großen auch, nur dann nach „seinem Weg“ umschauen, wenn er ausreichend Pausen hat, ihn zu erkennen. Also behaupten wir nicht länger, wir ließen sie ihren eigenen Weg finden, wenn wir ihn in Wahrheit längst vorgetrampelt haben. Und kommen sie dann vom selben ab, sind wir mit Negativbewertungen auch schnell bei der Hand.
Wer ist beim Heranwachsenden wirklich bemüht, Zusammenhänge in ganz frühen Kindheitstagen zu suchen - niemand. Das tun dann die Therapeuten, an die wir uns meist erst im Erwachsenenalter wenden.
Und genau jener Trampelpfad wird jetzt nicht mehr nur von Kindern beschritten, sondern schon bald von Babys bekrabbelt.
Meine Güte -
Hab‘ ich jetzt endlich mal den Nerv getroffen?
Wenn ja, sagen Sie es mir bitte zuerst ;).
Einen schönen Restsonntag wünscht
Susanne Rowley