Monday, 20. July 2015

Autor: Susanne Rowley

Die "vermessene Kindheit"

Die Angst vor einer gestörten Entwicklung in der Kindheit


Ein lesenswerter Kommentar von Prof. Dr. Stefan Sell / Portal: Aktuelle Sozialpolitik

https://www.facebook.com/aktuelle.sozialpolitik/posts/894529990618651

zum vorliegenden Artikel:

http://www.sueddeutsche.de/wissen/normalitaet-vermessene-kindheit-1.2570390

Am Ende des Kommentares finden Sie ein zusätzliches Statement von mir:

Zitat Prof. Dr. Stefan Sell:

»Die Angst vor einer gestörten Entwicklung der Kinder ist dabei kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem.« Das ist ein Satz aus einem wichtigen Artikel in Zeiten der zunehmenden Polarisierung von Familien und damit verbunden des Aufwachsens der Kinder und Jugendlichen.

"Vermessene Kindheit", so hat Boris Hänssler seinen Artikel überschrieben und seine Botschaft im Untertitel ist nicht neu, aber bedeutsam: »Eltern beobachten die Entwicklung ihrer Sprösslinge mit zunehmender Akribie und wachsendem Argwohn. Forscher aber warnen vorm Kontrollwahn.« Er wirft einen ersten annähernden Blick auf die "Normalfamilie": »Ehe ein Kind seinen sechsten Geburtstag feiert, bekommt es mindestens zehn Vorsorge-Untersuchungen. Im zugehörigen Heft stellen Kurven das altersgerechte Gewicht und die Größe dar - mit Maximal- und Minimalwert, die sofort zeigen, ob das eigene Kind der Norm entspricht. Eltern erfahren in jährlichen Entwicklungsgesprächen mit Erziehern, ob der Sprössling auffallend schüchtern oder motorisch eingeschränkt ist. Vor dem ersten Schuljahr kommt dann noch die Schuleingangsuntersuchung. Wer drei Kinder hat, wird vor deren Einschulung insgesamt 45-mal von Erziehern, Lehrern und Ärzten darüber unterrichtet, wie die Kinder im Vergleich zu anderen abschneiden.«

Die Botschaft ist klar: Es gilt, etwas zu unternehmen, falls das Kind auffällt. Und das bringt in unseren Zeiten ganz neue Branchen und Produkte ins Spiel: »Die App "BabyConnect" zum Beispiel hält den Alltag der Kinder in Zahlen fest. Die typische Bilanz eines Tages lautet dann: Das Kind wurde achtmal gestillt und sechsmal gewickelt (dreimal war die Windel nass, einmal voll, zweimal beides). Das Kind war eine halbe Stunde fröhlich, es hat gelacht, weinte dreimal, krabbelte und rollte sich. Schlafphase, Größe, Gewicht, Kopfumfang, Körpertemperatur - alles landet in einer Timeline.

Die App synchronisiert die Daten automatisch, sodass beide Eltern auf dem Laufenden sind.« So manche Smartphone-Abhängige wird das freuen, ach was: begeistern. Und man kann den Ansatz konsequent ausbauen - ein Wesenselement des Kapitalismus, also auch der App-Economy, in der wir leben: »Neuere Apps wie "Smart Parenting" vergleichen die Babys sogar über eine Echtzeit-Datenbank mit dem Kindern anderer Nutzer. Gut ist, was die anderen auch noch nicht können.«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass das möglicherweise ein Problem ist einzelner Eltern und dass es solche - nun ja - Übertreibungen immer schon irgendwie gegeben hat. Damit sind wir wieder angelangt beim Eingangssatz dieses Beitrags, dass also die Angst vor einer gestörten Entwicklung der Kinder kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem sei. Dazu braucht man Daten, die über den Einzelfall hinausgehen - und auch die liefert Hänssler in seinem Artikel.

Wie wäre es damit: »Laut Heilmittelbericht 2014 der Krankenkasse AOK haben die logopädischen Behandlungen bei vierjährigen Jungen deutlich zugenommen, jeder zweite ist in Therapie. Bei Mädchen sind es 12,8 Prozent. 125 von 1000 Jungen waren zudem schon beim Ergotherapeuten - bei den Mädchen 51. Offenbar entwickeln sich immer weniger Kinder normal.«

Dahinter steht das, was Ökonomen gut bekannt ist als "angebotsinduzierte Nachfrage", die gerade im "Gesundheitswesen" eine gewichtige Rolle spielt: "Je weiter wir Diagnosen ausweiten, desto mehr verbreiten wir Angst", so wird der amerikanische Psychiater Peter D. Kramer zitiert. Wunderbar für die Geschäftsmodelle, die darauf aufbauen und den verunsicherten Eltern Geld aus der Tasche ziehen. Allerdings mit perversen Nebeneffekten: »Normale Kinder würden stigmatisiert und therapiert. Risiko-Kinder fielen trotzdem durch den Raster.«

Natürlich gibt es auch einen ganz normalen und keineswegs zu verurteilenden Bedarf an Diagnostik die Entwicklung des Kindes betreffend. Hier ist es aber eben auch wichtig zu wissen, was die gegebenen bzw. verwendeten Messverfahren leisten - und was nicht. Hänssler illustriert das in seinem Artikel an zwei Beispielen: »Kinderärzte etwa müssen schon in den Vorsorgeuntersuchungen die sprachliche Entwicklung der Kinder einschätzen. Weist ein Kind im Alter von eineinhalb Jahren keinen Wortschatz von etwa 50 Wörtern auf, gilt es als Late-Talker. Die Hälfte dieser Late-Talker holt von selbst auf, die andere Hälfte nicht. Warum das so ist, wissen Forscher nicht. Das erschwert dem Arzt allerdings die subjektive Entscheidung, ob er eine Förderung empfehlen sollte. Immerhin können Kinder Defizite auch noch später, mit drei Jahren aufholen - falls sie denn erkannt werden. Doch auch in Kindertagesstätten gibt es in der Sprachdiagnostik viel Frust. Das Mercator-Institut für Sprachförderung legte Ende 2013 eine ernüchternde Studie vor: Pädagogen und Sprachwissenschaftler der Universität Köln hatten 32 Qualitätskriterien für Sprachscreenings erarbeitet. Nur acht der 16 Verfahren in deutschen Kitas erfüllten mehr als die Hälfte der Kriterien. Die Kölner Forscher bemängelten auch hier, dass die Verfahren nicht objektiv seien. Je nach Bundesland und Verfahren gelten zwischen zehn und 50 Prozent der Kinder als auffällig.« Keine beruhigenden Ergebnisse.

Genauer: Verheerend ist es, wenn man solche Bilanzierungen zur Kenntnis nehmen muss: »Geht es darum, die motorische Entwicklung zu beurteilen, sind die Verfahren noch schlechter. Etwa die Hälfte der geförderten Kinder bräuchte die Förderung gar nicht. Von den Kindern, die nicht gefördert werden, bräuchte wiederum die Hälfte eine Förderung.« Lösungsvorschläge? Da gibt es die Forderung nach mehr Fachpersonal in den Kitas. Wenn man immer mehr studierte Kindheitspädagogen in den Kitas bekommt, in deren Studiengänge auch die differenzierte Testdiagnostik behandelt wurde, dann könnte das zu einer Aufwertung der Einrichtungen führen.

Nun gibt es nicht nur die kritischen Anmerkung, dass ja sogar - siehe oben - die noch besser dafür qualifizierten Experten oft scheitern(müssen), wenn die Diagnoseverfahren eine solche Streubreite haben. Auch seitens der Kinder- und Jugendmediziner wird gegen diesen Vorschlag Stellung bezogen: »Der Düsseldorfer Arzt Hermann-Josef Kahl, Vorsitzender des Ausschusses für Prävention und Frühtherapie des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), sagt: Dass generell zu viele Kinder therapiert würden, sei nicht Schuld der Ärzte. Eher stecke dahinter der Druck von Erzieherinnen, Lehrern und Logopäden in den Kitas. "Die Eltern nehmen lieber eine Therapie auf, als sich vorwerfen zu lassen, sie hätten etwas versäumt. Wir reden uns um Kopf und Kragen und schaffen es manchmal nicht, die Unruhe aus der Welt zu schaffen."«

Irgendwie hat man das Gefühl, hier kommt man derzeit mit einer "besseren" Zuordnung nicht weiter. Vielleicht sollte man - bis was Handfestes vorliegt - mit dieser Empfehlung leben: »Die amerikanische Erziehungspsychologin Jane Healy appelliert jedenfalls, mit der ständigen Vergleicherei aufzuhören. "Es gibt heute Eltern, die ihren Kindern am liebsten schon in der Gebärmutter Lernkarten hinhalten oder durch ein Stethoskop auf dem Bauch "buh buh" rufen würden.

Wir sind zu weit gegangen: Wir haben den Eltern das Gefühl gegeben, dass im Gehirn der Kinder ein großes Durcheinander herrscht, wenn etwas in den ersten drei Jahren schief läuft." Das sei völlig falsch: "Wenn Kinder eine Fähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht entwickelt haben, können sie das später immer noch."«

Zitat Ende. __________________________________________________________

Anmerken möchte ich von meiner Seite dazu, dass ich für das Aufgreifen eines solchen Themas besonders dankbar bin, denn ich befasse mit seit so vielen Jahren mit diesem und artverwandten Aspekten.

Darum erlaube ich mir, auf einige wenige ergänzend hinzuweisen. z.B. hier schaute ich nach dem traurigen Ergebnis einer durch getakteten Erziehung von der Wiege bis zur Bahre.

http://www.kinderbetreuungsboerse.de/wigwam-blog/wigwam/nachricht/-bda12fe382/

und befasse mich mit der Frage, worin das Kümmern von Eltern heutzutage besteht. Ist es ein Begleiten und ein Fördern von sichtbar werdenden Talenten, oder ist es eher ein Optimieren und Vorzeichnen eines Weges, damit Wirtschaft speziell „mein Kind“ später nicht abhängen kann. Aber auch das „Kind als Mission“ fängt, wenn sie misslingt, irgendwann wieder bei Null an. Dann heißt es: >> Frei bin ich erst, wenn ich Jura studiere, obwohl meine Eltern wollen, dass ich Jura studiere << In diesem Artikel hier:

http://www.kinderbetreuungsboerse.de/wigwam-blog/wigwam/nachricht/-766e4dc858/

widme ich mich der Frage, warum können Eltern scheinbar immer weniger selbständig denken und fühlen - und infolge eigenverantwortlich handeln und entscheiden. Nicht schlimm? Weil sie können es ja nach-lesen? „Wenn Wissenschaft – Eltern schafft. Was als jeweils beste Erziehung auserkoren, hat oft wenig damit zu tun, was Kinder sind und was sie brauchen. Sowohl Eltern als auch Betreuende kommen mir zeitweise vor wie Stimmvieh! Sie haben eine, aber sie nutzen sie nicht. Sie empfinden ein Unwohlsein, sehen sogar die Wand auf sich zufahren, und geben Gas. Sie fahren teils unglücklich im Förderungskreisverkehr, nehmen eine Abfahrt, von der sie nicht überzeugt sind, fahren erneut hinein und biegen ab, wo sie schon immer eingebogen sind. Und hier fragte ich bereits im Jahr 2006 – ist sie tot die Intuition, die hinterfragt werden muss, bis der Kinderarzt kommt?

http://www.kinderbetreuungsboerse.de/wigwam-blog/wigwam/nachricht/info-breif-66/

Das Bauchgefühl, das Eltern von Mutter Natur mitgegeben wurde, wird vielfach von in vorauseilendem Gehorsam empfundenen Schuldgefühlen ausgehöhlt. Ich persönlich kenne fast keine Mutter mehr, die sie nicht als ständigen Begleiter neben sich hat. Ob das Kind zu lange Daumen lutscht oder später mal Drogen konsumiert - Eltern sind schuld. Und wenn das Kind erkältet ist, dann haben nicht die Viren das Werk vollbracht, sondern das Versäumnis, ihm rechtzeitig die richtigen Socken anzuziehen.

Die Liste wäre endlos fortzuführen. Im Bildungswahn können wir alle uns später mal auf die Schulter klopfen und sagen: Wir haben alles getan. Ich glaube, darum geht es! Und oft denke ich:

Ich könnte mir das bloggen eigentlich sparen –

copy and paste tut’s zunehmend auch.

herzlich Ihre Susanne Rowley wigwam.de

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