Sunday, 1. June 2014

Autor: Susanne Rowley

"Das Curriculum" - die Bibel der Kindertagespflege..

.. und wer deren Inhalte nicht im Schlaf aufsagen kann, hat sein Recht auf den Umgang mit dem Kleinkind sowieso verwirkt.

Die frühe Kindheit – das sensibelste Lebensstadium eines kleinen Menschen - wird in eine "Fassung" gebracht, die mich seit Jahren aus der Fassung bringt.

Beginnen möchte ich meinen Artikel heute mit einem Zitat von Johannes Beck:

>> Der Name des Problems lautet „Bildungswahn“ die total und totalitär gewordene Pädagogisierung sämtlicher Lebensverhältnisse. Ein alltäglicher pädagogischer Furor hat aus uns allen Dauerlehrlinge gemacht, die vor lauter Wegweisern, Ratgebern und Bildungsangeboten genau das verlieren, was solche Belehrungen angeblich offerieren: Orientierung << (http://www.beck-johannes.de/vita.html)

Ein Kommentar von Andrea Bleichert, den sie mir gestern hinterlassen hat zu meinem kurzen Post des "Kitaleitungs-Kongresses" https://www.facebook.com/Wigwam1994/posts/732259763500869

veranlasst mich zu meinem Artikel hier, und ich bin ihr dankbar, dass sie diesen Kommentar geschrieben hat, denn er drückt aus meiner Sicht den Kern des Problems der KTP und den Scheideweg, an dem sie nun steht, aus. Und ich wünsche mir von Herzen, sie möge den richtigen Weg nun endlich einschlagen – die Kindertagespflege - wenn nicht jetzt, wann dann!

Andrea Bleichert schreibt und fragt zugleich:

>> Ich werde jetzt einfach mal hier meine Eindrücke zur (geplanten) Qualitätsentwicklung in KiTas und dem Dilemma für die KTP schildern. Wie schon oben berichtet sehe ich die (Qualitäts)-Entwicklung der frühkindlichen Bildung in KiTas mit großer Skepsis, weil ich denke, dass der Weg total falsch ist und weil ich befürchte, dass unterm Strich hauptsächlich die Erzieherinnen Richtung Burnout getrieben werden. Wo bleibt aber die KTP? Bei der Vorstellung der neu geplanten Sprachförderung (mit Einführung des neuen KiBiz ab Sommer in NRW) war aufgefallen, dass KTP am Rande immer erwähnt wurde, da ja faktisch gleichgestellt. Auf Nachfrage gab die Referentin zu, dass eine Einbeziehung der KTP ins neue Sprachförderkonzept zwar theoretisch geplant, aber faktisch gar nicht durchführbar ist. Genau hier beginnt für mich das Dilemma: Will die KTP eine Gleichstellung in allen Punkten muß auch dieser sicherlich "falsche" Weg der "Bildungsvermittlung" mit einbezogen werden, mit allen Konsequenzen wie Bildungsdokumentation, Entwicklungsdokumentation und dann auch Sprach-Dokumentation (!). Will KTP das nicht, weil falscher Ansatz, falscher Weg oder schlichtweg nicht durchführbar, dann wird m.E. auch eine Gleichstellung mit KiTas in Frage gestellt, zumindest was die laut KiBiz geplanten Qualitätsmerkmale angeht. Und stellen wir dann die KTP nicht auf das Abstellgleis obwohl sie ja auf jeden Fall der "sinnvollere" Weg (familienergänzend in kleinen überschaubaren Gruppen) in der frühkindlichen Betreuung ist? Wie sehen Sie das Problem? Was soll KTP tun? Auf Gleichstellung mit allen (auch falschen) Ansätzen und Konsequenzen pochen? Abwarten mit der Gefahr aufs Abstellgleis zu geraten? Eigene Konzepte und Ansätze stärker definieren und so Qualitätsmerkmale definieren? <<

Hier meine Antwort auf den Punkt gebracht:

Nein, ich bin nicht dafür, dass KTP einem falschen Propheten in die Betreuungs- und Bildungswüste folgt, auf einem Weg, auf dem wir zudem nicht einmal gehen wollen. Jetzt gilt es: Eigene Konzepte, eigene Ansätze definieren, sich einen eigenen Raum des mehr als berechtigten Daseins schaffen. Raus aus dem Lückenbüßer-Dasein, sowohl in der Haltung und dem Selbstbild, als auch im "Zuarbeiten" zu den Institutionen.

Seit vielen Monaten verfolge ich

die Diskussionen in den vielfältigen Foren der Kindertagespflege, und ich stelle fest, dass KTP in großen Teilen versucht, sich der Institution anzu-gleichen, um einen eigenen Wert zu erschaffen – erreicht wird genau das Gegenteil. Die Argumente werden aufgebaut im Vergleich der Ausbildung, im Vergleich der Vergütung, im Vergleich der Betreuungsleistung und schlussendlich im Vergleich der Qualitätsmerkmale. KTP hat – und das schreibe ich nicht zum ersten Mal – eine völlig andere Aufgabe und ein völlig anderes Potential, als die Institution, und dieses wird völlig verkannt. Aber es müsste zunächst einmal der Mut aufgebracht werden, etwas gegen „Bildung“ in der vorgestellten Form der Kitas etwas zu sagen, und wer traut sich das schon. Wer gegen Bildung ist, wäre ja im Gegenzug für Verblödung, um es mal plakativ auf den Punkt zu bringen. Und ein solches Schild hängt sich wohl keiner gerne um.

Ich glaube, wir leiden nicht nur unter Bildungswahn,

sondern an einer regelrechten frühkindlichen Bildungshysterie, die nur einem Diktat unterworfen ist: dem Wettbewerb. Wie ich bereits an anderer Stelle einmal schrieb, warte ich noch auf die pränatalen Bildungsprogramme, und ich bin sicher, da fällt den Experten noch das ein oder andere dazu ein. Es geht um Menschenoptimierung im negativsten Sinne – nichts wird ausgelassen, um den künftigen Überflieger – das eigene Kind – fit zu machen für das harte Leben da draußen. Man investiert unaufhörlich in Trainingslager und maßgefertigte Bildungsexercitien – je früher desto besser.

Wir haben eine neue Bibel – das Curriculum –

und wer deren Inhalte nicht im Schlaf aufsagen kann, hat sein Recht auf den Umgang mit dem Kleinkind sowieso verwirkt. Mit ehrlichen Bildungschancen hat dies im Übrigen wenig zu tun, denn echte Chancen gehen in der Regel auch von verschiedenen Anlagen aus – nicht so aber hier, denn Rüstzeug ist ab sofort das, was wir ins Kleinkind hineindressiert haben und nicht das, was es von Natur aus mitbringt. Und die Erzieherin wird selbstverständlich mit in die Haftung genommen, wenn hinten nicht rauskommt, was vorne reingesteckt wurde. Es wird gefordert und gefördert im wahrsten Sinne des Wortes, bis der Arzt kommt.

Und trotz aller Anstrengungen

werden sie sie nicht los, die Angst. Die Angst vor der Schuld, dass auch das noch nicht gereicht haben könnte. Es geht nicht ums Kind, es geht um Optimierung des kindlichen Materials. Es geht nicht um das Wohl des Kindes, sondern um frühkindliche Perfektionierung von Können und das Überhäufen mit Wissen. Und dieses Vorgehen ist auch ein Spiegel dessen, was wir alltäglich erleben – es ist kein Platz für Unvollkommenes, Nichtperfektes. Der Witz dabei ist, dass wir als Erwachsene aktuell leiden unter der ständigen Effizienzoptimierung in allen Bereichen, und statt dem etwas Natürliches entgegenzusetzen, muten wir es den Allerkleinsten zu. Irre! Ein Kreislauf also, der sich aus der subjektiv empfundenen Not heraus, selbst erhält.

Aber sie werden nicht taugen all die Programme – nicht gegen Lebenskrisen – und nicht für inneren Halt, ohne den jedes Kartenhaus, dem das Fundament fehlt, zusammenbrechen muss.

Dem Bildungswahn fehlt etwas ganz Entscheidendes: Die Liebe zum Leben

Es gibt eben keine Messeinheit für Liebe, Wärme, Geborgenheit, Zuwendung, Sicherheit, Schutz, und Vertrauen, und das ist das eigentliche Dilemma in diesem Land. Alles, was wir nicht messen, katalogisieren, ordnen, ver-einheitlichen können, ist und bleibt suspekt. Und so kommt es, dass ein anfänglich guter Gedanke, eine im Ansatz gute Entwicklung wie die Frühförderung irgendwann ausufert, kippt und schlussendlich verkommt.

Ich habe das Cover des Buches von Ulfilas Meyer Pädagoge und Theaterwissenschaftler aus der fränkischen Schweiz absichtlich gewählt, denn er bringt es in seinem Buch auf den Punkt und schreibt vom Auflösen traditioneller Strukturen und Lebenswelten in Zeiten von politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen und vom Verlust des inneren Halts. Dieses Buch ist für Erwachsene gedacht, aber sie müssten es wohl kaum kaufen, hätten sie in ihrer frühen Kindheit, den inneren Halt bereits gefunden, der sie durch die stürmischen Zeiten ihres Lebens führt.

Aber es gibt wohl nur eine Zeit im Leben,

in der mühelos das zu verankern ist, was in späteren Jahren nur noch anzu-lesen ist, und das ist die frühe Kindheit. Zurück zum Thema:

Es gibt aus meiner Sicht 2 Grundfelder, die hier zu diskutieren wären:

- Das Selbstverständnis der KTP und deren völlige Neuformierung, die ich dringend anmahne.

- Und der zusätzliche Blick auf die Ursachen der Entwicklung der Kitas mit ihrem Förderwahn – vorbei am Kind.

Letzteres

hat ganz viel mit Maßstäben und Werten zutun, die in Deutschland Anerkennung finden – und vor allem der Umgang damit. Ein Vertrauen in natürliche Zusammenhänge und ihre Abläufe, entdecke ich sehr selten in diesem Land. Auch dann nicht, wenn die Menschen sich flächendeckend in Wahrheit nach etwas ganz anderem sehnen. Es gibt immer das, was an der Oberfläche schwimmt, als Meinung augenscheinlich von der Gesellschaft mitgetragen wird, und das, woran der Deutsche insgeheim krankt – so ganz für sich allein - versteht sich.

Ich würde hierzu gerne ein Beispiel geben, was zunächst etwas weit hergeholt erscheint,

aber schnell verdeutlicht, was ich meine. Ich war in früheren Jahren u.a.in der Stillberatung tätig. Der Hauptpunkt, der da zur Diskussion kam, war nicht, wie stille ich richtig, sondern wie messe ich, was aus der mütterlichen Brust herauskommt. Gar nicht – habe ich darauf stets geantwortet – weil es auch nicht Sinn der Sache ist. Ich weiß nicht mehr, wie viele Mütter ich in Deutschland kennen gelernt habe, die angeblich „nicht Stillen“ können – gäbe es so viele Nichtkönnerinnen in anderen Kontinenten, wäre die Hälfte der Menschheit verhungert. Die Angst nicht alles richtig oder alles falsch zu machen, geht schon im und nach dem Kreissaal los; sei es, dass wir die Kinder herausschneiden, statt sie ihren natürlichen Weg auf die Erde gehen zu lassen, oder sei es, dass Hebammen frisch gebackenen Müttern die Flasche an den Kopf werfen, noch bevor sie die Brust als natürliches Mittel entdeckt haben. Und so ist er immer vorprogrammiert "der Anfang vom Ende" (ein bisschen Stillen und ein bisschen Zufüttern stört Angebot und Nachfrage dergestalt, dass es aus ist mit dem Stillen).

Wir haben also der Natur ein Schnippchen geschlagen -

doch das, was wir gewinnen wollten - Sicherheit - haben wir dennoch nicht gewonnen.

Ich könnte noch unzählige andere Beispiele aufführen, in denen das Aufkommen von natürlichen Prozessen nur eine Weile eine Chance hat, bevor es dann in messbare Abläufe und Gänge gezwängt werden muss, weil alles andere Chaos bedeuten könnte.

Ich wohnte einmal einer Sitzung bei, in der es um das Aufkommen von soft skills in der Personalführung ging. Es ging also um weiche Fähigkeiten – auch genannt soziale Kompetenz. Die Sitzung endete so, das besonders schlaue Köpfe Umfrageergebnisse einbrachten, aus denen sie flux die wichtigsten Merkmale herausgefiltert hatten, die man sich „anlesen“ oder sonst wie aneignen konnte. Massen von Büchern im Großformat oder im handlichen Taschenguide können sie heutzutage dazu erwerben, selbstverständlich bespickt mit Checklisten und Selbsttests etc.

Wie verliebe ich mich richtig –

wäre sicher das Lieblingsbuch der Deutschen – sicher finde ich es irgendwo, wenn ich mal ordent-lich google *Spässle gmacht.

Tatsache ist:

Überraschungen sind nicht gerne gesehen, und so wird auch die frühkindliche Bildung und somit das sensibelste Stadium im Werdegang eines kleinen Menschen in eine Fassung gebracht, die vermeintlich zu kontrollieren ist.

Besonders traurig ist diese Entwicklung in den Kitas auch deswegen, weil wir eigentlich aus negativen Beispielen in anderen Bereichen längst gelernt haben müssten. So leiden Ärzte und Pflegepersonal in Krankenhäusern und Einrichtungen schon sehr laut und lange unter dem Schwerpunkt der Dokumentationen, weil es ihnen keine Zeit mehr lässt für das, was sie eigentlich tun sollten – Pflegen und Heilen.

Die Entwicklung wird auch hier auf gleiche Weise fortschreiten – Erzieher und Erzieherinnen werden entweder zunehmend ganz aussteigen aus diesen Prozessen oder aber sie wurschteln sich irgendwie durch – wenn sie bereit sind, den Preis für sich und für das Kind zu zahlen.

Beide Ergebnisse sind nicht wünschenswert

fürs Kind.

Aus meiner Sicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, die Kindertagespflege selbstbewusst aus der Grauzone zu führen! Wenn nicht jetzt – wann dann!

Einen schönen Restsonntag wünscht

Susanne Rowley

Wigwam 1994
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